utopia – 30: wie in einem wintermärchen

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Als Noë die Augen wieder aufschlägt, ist sie ruhiger. Ausgeschlafen, gestärkt. Und ihr erster Gedanke gilt ihren neuen Kleidern. Sie blickt zur kleinen Türe in der Wand und tatsächlich blinkt die Lampe daneben grün auf.

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utopia – 26: schöne neue welt

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Als Noë wieder aufwacht, liegt sie immer noch in dem fensterlosen Zimmer und die Kiste auf dem Tisch brummt leise. Sie setzt sich auf und beschliesst, weiter in der Kiste zu lesen. Und vielleicht auch zu schreiben, denn die Kiste verfügt ja auch über Buchstaben.

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utopia – 20: ein tisch ist ein tisch

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë hatte schon seit mehreren Tagen keine Zeitung mehr gelesen. Stattdessen hatte sie sich mit Texten über Gefühle auseinandergesetzt. Sie hatte versucht, das alles zu verstehen, mit anderen darüber zu sprechen. Aber es war ihr nicht so recht gelungen.

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utopia – 18: noë weint nicht, wenn der regen fällt

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë schlug die Augen auf. Sie lag in ihrem Bett, die Decke um sie herum zerwühlt. Sie schien hier wirklich die ganze Nacht geschlafen zu haben. Oder jedenfalls eine ganze Zeit. Sie erinnerte sich, dass sie immer wieder aufgewacht war, zumindest halbwegs. Und sie hatte das Gefühl gehabt, dass sie von einem Traum in den nächsten gesprungen war.

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utopia – licht

Als das Feuer am Streichholz aufflammte, erschrak sie so, dass sie es fallen lies. Es erlosch sofort. Zörgerlich startete sie einen neuen Versuch. Aber erst beim fünften Anlauf gelang es ihr, das Feuer vom Holz zum Docht zu bringen. Es knisterte, Funken sprühten hoch. Die Flamme glomm erst bläulich auf, wurde grösser wie eine Blase und dann wieder kleiner. Die Farbe änderte sich fast ins Weiss. Dann wurde die Flamme wieder grösser und gelber, gegen ein leichtes Golden. Und schliesslich wurde sie gelb-orange und im Ansatz blau-weiss. Das weisse Wachs direkt unter der Flamme begann bereits durchsichtiger zu werden. Bereits nach kurzer Zeit hatte sich ein kleiner See gebildet. Und immer noch sprühten ab und zu Funken. Darum lag ein stetes, wenn auch nicht gleichmässiges Knistern in der Luft.

Die Kerze warf ihr Licht in den Raum, auf den Tisch und an die Wand. Dort begannen Schatten zu tanzen, denn die Flamme flackerte leicht. Der eine Schatten gehörte zur Kerze selber, er zeichnete ihr Rund nach. Sie war ja schon ziemlich abgebrannt, der Docht lag tief im Wachszylinder. Der Schatten an der Wand bildete eine Art abgerundetes V, das langsam hin und her schwebte. Die obere Kante der Kerze war nicht gerade, sondern verlief wellenförmig in zwei relativ regelmässigen Auf und Ab. Dort, wo die vordere Kante tiefer heruntergebrannt war als die hintere leuchtete der Rand hell auf. Ab und zu sah man die Flamme über diesen Rand hinaus aufflackern. Normalerweise aber leuchtet der mittlere Teil der Kerze einfach goldgelb.

Die Kerze brannte nun schon einige Minuten und ihr war es, als ob sie bereits das warme Wachs riechen konnte. Leicht süsslich. Und irgendwie roch es wie das Gegenteil von frischer Nachtluft: Es roch leicht plastifiziert, wie wenn man durch eine Plastiktüte atmete. Der Geruch war aber nicht unangenehm. Im Gegenteil, er erweckte in ihr ein Gefühl von Geborgenheit.

Dann riss plötzlich der Rand ein, da wo er schon weit herunter gebrannt war. Das Wachs floss mit einem Schwung heraus, rann aussen an der Kerze entlang hinunter und begann sich alsbald rückzustauen. Es bildete sich ein dünner Stängel entlang der Kerze mit knubbeligen Verdickungen. Sie tauchte ihren Finger in das warme Wachs in der Kerze. Das fühlte sich erst ganz heiss an, kühlte aber rasch ab und war dann nur noch warm. Sie spürte, wie das Wachs die Poren ihrer Haut abschloss. Sie rieb die Finger aneinander. Das fühlte sich glatt an, aber seltsam. Leblos, aber irgendwie doch organisch, weil weich und verformbar. Sie wartete ein bisschen, das Wachs härtete schnell ganz aus. Es wurde spröde und als sie den Finger jetzt bewegte, platzte die neue Haut auf, bekam Risse und fiel ab. Am Finger blieb eine fettige Schicht zurück, die nicht sichtbar war, wohl aber spürbar. Es war ihr, als spüre sie das Wachs noch an der Hand, obwohl es lange wieder abgefallen war.

utopia – winterfrüchte

Seit Tagen hatte die Tüte dagelegen. Fast könnte man meinen, achtlos. Aber eigentlich war in dieser neuen Welt der Anblick einer Tüte schon ein Ereignis. Sie war aus durchsichtigem Plastik, sah irgendwie altmodisch aus. Kam aus Südamerika. Sie lag da, knisterte wundervoll, wenn man sie berührte. Leicht klang das Knistern. Geheimnisvoll. Die Oberfläche war ganz glatt. Und obwohl sie durch den Plastik hindurch sehen konnte, schien zwischen dieser glatten Plastikoberfläche und dem Inhalt kein Zusammenhang zu bestehen.

Sie wusste ganz genau, was sich in der Tüte befand. Sie hatte eine vage Erinnerung aus der Kindheit, wie es duften würde, sobald sie den Plastik öffnete. Sie wusste, wie die gerösteten Erdnüsse sich in den Fingern anfühlen würden und wonach sie schmecken würden, sobald sie die geschälte Nuss in den Mund nam. Sie wusste es und sie verzehrte sich danach, diese Eindrücke endlich wirklich zu erleben, sich nicht mehr bloss daran zu erinnern. Aber sie freute sich auch unendlich auf diesen Moment und sie wollte diese Freude noch ein Weilchen länger hinhalten.

Aber dann überkam sie einfach eine unendliche Neugierde, ein Verlangen danach, zu fühlen, zu riechen, zu schmecken, ob ihre Erinnerungen wirklich noch stimmten. Sie riss die Packung auf und sofort schlug ihr der Geruch entgegen. Ihre Erinnerung hatte sie nicht getäuscht. Es roch herb, leicht staubig. Aber irgendwie auch süsslich. Sie atmete tief ein. Es roch nach geröstet. Sie beugte sich über die Tüte und atmete noch einmal tief ein. Jetzt schien ihr der Geruch fast etwas metallen.

Und während sie sich noch den Gerüchen hingab, überkam sie eine ungeheure Lust, einfach in eine solche Nuss hinein zu beissen, ihre Zähne in die weiche Schale zu bohren. Es knackte leicht, gleichzeitig gab es einen pfeifenden, schleifenden Ton, als ihre Zähne sich zur Luft in der Nuss durchsäbelte. Die Schale splitterte ganz leicht ab und sie fühlte die kleinen Stücke im Mund. Faserig fühlte sich das an. Und es schmeckte irgendwie nach nichts. Sie nahm die Nuss aus dem Mund.

Jetzt hielt sie sie in der Hand. Sie erspürte die poröse Oberfläche. Irgendwie fühlte sich das warm an. Nicht unbedingt lebendig, aber auch nicht tot. Irgendwie organisch. Sie fixierte die Spitze am einen Ende der Erdnuss mit dem Zeigefinger und drückte auf die gebogene Rundung darüber mit dem Daumen. Es knackte, als die Schale zerbarst und die Luft aus dem Innern der Nuss entwich. Sie musste die zweite Hand zur Hilfe nehmen, um die Nuss nun ganz aufzubrechen. Es knacke noch einmal, dann knirschte es, als sie die beiden Hälften mit einem Ruck voneinander trennte. Die Kerne fielen zitternd auf den Tisch. Es war ein Geräusch, dass von den Ausdehnungen einem Poltern nahe kam, aber natürlich viel, viel leiser. Die zwei Nüsse zerfielen sofort in ihre Hälften und die rote Schale löste sich mit einem papiernen Geräusch von ihnen. Sie nahm die knirschenden Blättchen in ihre Finger. Fast klang es, als wenn jemand durch Schnee geht.

Dann nahm sie die Nuss in den Mund und kaute sie. Es knirschte weiter, aber irgend wie weich. Und so fühlte es sich auch an. Die Nuss schien sich mehr zwischen ihren Zähnen zu verformen als auseinander zu splittern. Sie war nur im ersten Moment knusprig, dann sofort eher weich und bald sogar irgendwie fasrig. Und gleichzeitig mit der äusserlichen Verformung gab sie auch ihren Geschmack preis. Dieser veränderte sich eben so schnell: Erst war die Nuss süsslich, dann kam der typische Nussgeschmack, ganz genau so, wie sie sich erinnert hatte. Er war warm, erdig irgendwie. Aber auch frisch und würzig. Und dann wurde er wieder süsslicher. Bis da nichts mehr war, nur noch das fasrige etwas, zwischen ihren Zähnen, an ihrer Zunge.

im gedärm des gebäudes

[Dieser Text stammt aus den ersten Ideen zum Roman „Utopia“. Das Konzept des Romans hat sich dann aber verändert, so dass dieser Text nicht mehr hinein passte.]

Eigentlich wäre es nicht nötig gewesen, das Gebäude jemals zu verlassen. Es wäre nicht einmal nötig gewesen, die Wohnung zu verlassen. Trotzdem lief sie durch die Flure. Auf den ersten Blick wirkte alles recht edel, dicke, dunkelrote Teppiche dämpften die Schritte. Nostalgische LED-Lampen beleuchteten die marmornen Steinwände. Die Lifttüren und die Geländer an den Treppen sahen aus wie edles Holz. Wozu, dachte sie, wozu diesen Aufwand, wenn doch nie jemand sich hier aufhielt. Und wer hier wohl putzte? Ob es lebendige Menschen gab, die sich in den Fluren bewegten, ausser sie selbst gerade jetzt. Der Teppich roch seltsam. Neu. Vielleicht, sie erinnerte sich, dass ihre Eltern früher manchmal gesagt hatten, etwas rieche „neu“. Beispielsweise das neue Auto. Es war eher negativ gemeint. Es war ein negativer Geruch, etwas lebloses, ungebrauchtes. Sie hatte einen solchen Geruch sonst noch nie bewusst wahrgenommen. Wenn sie per Internet etwas bestellte, dann kam es immer bereits mit ausgewählten Düften versehen. Auch die künstlichen Blumen konnte man mit Düften versehen lassen. Alles künstlich. Sie fragte sich, ob es wohl möglich wäre, sich irgendwoher echte, natürliche, lebendige Blumen kommen zu lassen.

Sie lief ziellos durch die Flure. Sie war sich selbst nicht sicher, was sie eigentlich wollte. Sie wollte einfach weg. Sie wollte ein Zeichen setzen, für sich selber. Dass es nicht ausreichte, sich auf einer gemeinschaftlichen Dachterrasse zu treffen und dann trotzdem mittels technischer Geräte miteinander zu kommunizieren. Es war ja schon ausserordentlich, dass sich Menschen überhaupt irgendwo physisch in einer Gruppe zusammenfanden. Dass man nicht mal ansprechen konnte, das man doch auch miteinander reden könnte, etwas miteinander tun könnte, miteinander sogar etwas unternehmen könnte. Die hielten sie doch alle für verrückt. Und wenn schon, dann wollte sie wirklich etwas verrücktes tun. Aber was? Sie war sich nicht einmal sicher, ob das Gebäude überhaupt einen Ausgang hatte, der auf die Strasse führte. Und mit einem Wagen aus der Garage wegfahren, das wollte sie ja nicht.

So lief sie einfach ziellos durch das Flurlabyrinth. Sie schaute ich die Türen an. Türen, die vielleicht während Jahren nicht mehr geöffnet worden waren. Türen, hinter denen irgendwelche Soziozombies lebten oder dahinvegetierten. Wer wusste das schon. Wobei: Sie hatte noch nie davon gehört, dass Tote in den Wohnungen liegen. Ihre Eltern hatten früher davon erzählt, dass das zunehmend ein Problem geworden sei in der Stadt: Dass jemand in seiner Wohnung starb und wochenlang nicht entdeckt worden sei. Keine Nachbarn hätten bemerkt, dass die Person schon lange nicht mehr zu sehen oder zu hören war. Und erst als sich der Geruch nach Tod seinen Weg aus der Wohnung heraus gebahnt hatte, kümmert sich dann jeweils jemand darum. Und alle Leute taten geschockt.

Sie staunte ein bisschen: Die Flure waren immer gerade, senkrecht zueinander angeordnet. Ob alle Wohnungen über Fenster verfügten? Es war ihr klar, dass nicht alle eine Dachterrasse haben konnten. Aber Fenster? Vielleicht auch das nicht. Der Minergiestandard hatte damals den Durchbruch gebracht: Nicht nur, dass man Fenster nicht mehr öffnen sollte, um Energie zu sparen. Bald wurde klar, dass man gar keine Fenster mehr brauchte und so noch etwas energieeffizienter bauen konnte. Denn durch das Glas war mehr Wärme nach aussen entwichen als durch die Steinmauern. Und die digitale Visualisierung machte schnelle Fortschritte: Bald konnte man sich Bildschirme wandweise in die Wohnung stellen. Die wenige Abwärme reichte im Winter nicht mal zum Heizen aus. Aber jetzt, mit der Klimaerwärmung wurde alles besser.

Sie beschloss, bei jeder Weggabelung nur noch nach rechts zu gehen und wenn eine Treppe käme nach unten zu steigen. Sie lief erst noch weitere vier Minuten, bevor es soweit war. Unten angekommen, wählte sie neu immer nur den linken Flur. Nach weiteren drei Minuten kam sie zu einer neuen Treppe. Wieder stieg sie nach unten. Nun beschloss sie, an jeder Kreuzung die Richtung zu ändern, einmal links, einmal rechts. Dieses Mal dauerte es dreizehn Minuten, bis sie wieder zu einer Treppe kam. Sie versuchte sich zu überlegen, ob es dafür einen mathematischen Grund gab, der durch ihr Auswahlschema begründet war. In ihrer Wohnung hätte sie sofort den Computer gezückt. Die Verlockung war gross, herauszufinden, ob das Netz bis hier in die Tiefe der Gänge reichte. Sie guckte kurz auf das mobile Gerät. Ja, es hatte Verbindung.

Aber das mathematische Problem schien ihr nicht mehr so dringend, denn als sie unten an der Treppe angekommen war, fiel ihr auf, dass das Gebäude sich hier verändert hatte. Der Teppich war immer noch dick, weich und roch neu. Aber er war dunkelgrün. Und am Rand des Teppichs sah sie, dass der Fussboden darunter nicht aus Marmorstein war, sondern aus dunklem Holz. Sie wollte es berühren. Aber sie traute sich nicht: Wer weiss, wenn jetzt plötzlich eine Türe aufgehen würde… Aber war es denn verboten, sich in den Fluren aufzuhalten? Sie konnte sich nicht an eine entsprechende Regelung erinnern. Trotzdem hatte sie plötzlich ein beklommenes Gefühl. Ein schlechtes Gewissen. Wie wenn sie bei etwas Unschicklichem ertappt worden wäre.
Sie beschloss, das Experiment für den Moment hier abzubrechen und machte sich auf den Rückweg.

Erst war sie orientierungslos, aber dann erinnerte sie sich an den Tag, als sie hier eingezogen war – denn damals war sie ja schon durch dieses Treppenhaus und durch die Flure gekommen. Das Sicherheitssystem des Gebäudes verfügte über Sammelrutschen im Fall einer Notevakuierung. Die Hausführerin hatte ihr damals gesagt, sie könne sich allerdings keine Situation vorstellen, in welcher es besser wäre, das Haus zu verlassen. Das Haus unterläge aber noch einer alten Vorschriftenregelung, da sein Gerüst noch aus einer älteren Zeit stamme und man darum hatte ältere Bauvorschriften berücksichtigen müssen. Darum also die Sammelstellen mit den Notrutschen. Und der Weg zu den Notrutschen sei mit Pfeilen markiert, die über einen Schalter aktiviert werden können. Sie ging den Flur entlang und fand nach wenigen Schritten einen blinkenden Schalter an der Wand. Als sie ihre Hand in dessen Nähe bewegte, leuchteten an der Fussleiste grüne Pfeile auf. Sie folgte Ihnen und binnen weniger Minuten befand Sie sich in einem der Haupttreppenhäuser mit den etwas breiteren Treppen und mit Liften. Sie holte sich einen Lift und wählte das Dachgeschoss. Als sie ausstieg, erkannte sie den Wegweiser, den sie sich damals als Neuankömmling eingeprägt hatte – völlig unnötigerweise, wie sie bald darauf erkannt hatte, da sie die Wohnung kaum noch verliess und wenn, dann nur um zur nächsten Gemeinschaftsterrasse zu kommen, die sehr nahe ihrer Wohnung war.

Der Wegweiser liess sie erkennen, dass sie gar nicht weit von ihrer eigenen Wohnung entfernt war und sie vermutete, dass sie in den unteren Stockwerken in weiten Kreisen gegangen war. Sie kehrte zu ihrer Wohnung zurück, etwas erleichtert, dass niemand sie gesehen hatte, aber auch etwas enttäusch: So abenteuerlich war ihn Abenteuer jetzt letztendlich doch nicht gewesen.