utopia – 20: ein tisch ist ein tisch

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë hatte schon seit mehreren Tagen keine Zeitung mehr gelesen. Stattdessen hatte sie sich mit Texten über Gefühle auseinandergesetzt. Sie hatte versucht, das alles zu verstehen, mit anderen darüber zu sprechen. Aber es war ihr nicht so recht gelungen.

Jetzt sass sie mit der Zeitung und mit dem dunkelroten Buch auf dem Sofa und konnte sich nicht recht entschieden, womit sie anfangen sollte. Dann gab sie sich einen Ruck und schlug die Zeitung auf. Ihre Augen suchten nach dem goldenen Schimmer und sie fand ihn auf der zweiten Seite. Ein Bericht zur Luftverschmutzung.


25. März 2014
Doppelt so viele Opfer von Luftverschmutzung wie noch vor sechs Jahren

Die Weltgesundheit steht auf dem Spiel, insbesondere in Asien: Dort sterben heute doppelt so viele Menschen an den Folgend von Luftverschmutzung wie noch vor einem halben Jahrzehnt. Grund dafür sind genauere Berechnungsmethoden.

Besonders betroffen sind einmal mehr Frauen und Kinder. Sie verbringen mehr Zeit zu Hause. Wird dort mit Feuer und Kohle geheizt, sind sie dem schädlichen Feinstaub länger ausgesetzt als die arbeitende männliche Bevölkerung.

Symptome unklar

Kleine Partikel in den Atemwegen können Entzündungen bewirken. Dies wiederum führt zu Husten und Auswurf. Was mit einem kleinen Kratzen im Hals anfangen kann, kann mit dem Auswurf von Schleim enden. Nicht zu unterschätzen ist auch Atemnot, wenn sich die Luftwege verengen.

Dauerhusten kann aber auch dazu führen, dass das Zwerchfell unter ständigem Muskelkater leidet. Dies wiederum kann zu Haltungsschäden führen, weil die Muskeln nicht mehr gleichmässig ausgelastet werden können. Weiter wird zur Zeit untersucht, ob ein Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Übergewicht besteht.

Hoffnung für Betroffene

An den Folgen der Luftverschmutzung stirbt man nicht, denn sie führen nicht zum Tod. Viel mehr sterben die Menschen an ganz normalen Volkskrankheiten. Ausserdem lassen sich die Gesundheitsfolgen kaum abgrenzen von Risikofaktoren für andere Erkrankungen. Der direkte Nachweis, dass Feinstaub eine schädliche Wirkung hat, fehlt bisher. Das relativiert die Opfer und die Massnahmen: Solange der Beweis aussteht, dürfen die Menschen weiterhin ihre Häuser heizen.

Weiter ist zu bedenken, dass die Fallzahl so extrem gestiegen ist, weil seit dem letzten Jahr neue Messmethoden eingesetzt werden: Früher wurden nur die Opferzahlen in den Städten gemessen, heute wird die Landbevölkerung mittels Satelliten mitberechnet.>web<

Noë dachte darüber nach, wie sich wohl ein Kratzen im Hals anfühlte. Und sie erinnerte sich daran, dass sie manchmal das Gefühl hatte, nicht genug Luft zu bekommen. Ob sie unter Luftverschmutzung litt? Aber sie heizte ja nicht mit Feuer und die Luft draussen schien ihr sauber zu sein. Sie nahm sich aber fest vor, das nächste Mal, wenn sie draussen auf der Strasse war, zum Himmel hoch zu sehen und dem Satelliten zu winken. Damit er sah, dass es ihr gut ging.

Sie spürte ein Zucken im linken Auge, fasste sich unwillkürlich mit der Hand an die Schläfe. Die Muskeln im Auge zuckten und sie schloss die Augen und als sie sie wieder aufmachte, stand sie auf der Strasse. Sie betrachtete die Luft um sich herum. Aber sie konnte sie nicht sehen, denn die Luft war ja durchsichtig. Sie schnupperte, ob sie Feuer und Kohle riechen konnte. Aber sie roch nichts. Die Luft roch nach nichts. Noë atmete tief ein und wieder aus und horchte, ob es in ihrem Hals kratzende Geräusche gab, oder gurgelnde. Oder schleimige. Sie hörte nichts. Sie versuchte in sich zu spüren, ob etwas kratzte oder schleimte. Aber sie fühlte nichts. Alles fühlte sich normal an.

Sie blickte zum Himmel, suchend. Sie wusste nicht, was sie dort suchte. Sie überlegte, was denn im Himmel sein könnte. Die Sonne, Sterne, Wolken. Sie hatte einmal etwas über Nordlichter gelesen. Aber sie sah nur das regelmässige, unspektakuläre graublau. Ihr kam die Idee, dass da oben, im All, vielleicht irgendwo ein Astronaut in einem Satelliten sass und auf sie runterblickte. Und sie winkte ganz fest. Und sie stellte sich vor, dass der Astronaut ihr zurückwinkte, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte.

Dann trat sie wieder ins Haus ein, stieg in ihre Wohnung hoch und setzte sich aufs Sofa, wo die Zeitung lag und das dunkelrote Buch. Sie schlug das Buch entschlossen auf und sah darin bunte Flächen, die ineinander übergingen und fand das ein sehr passendes Bild. Sie begann zu lesen.


utopia bunt, ©saschademarmels

glatter stoff, fast etwas kühl, ohne falten, unfassbar. rauer stoff, viel struktur, wie ein relief. kratzt auf meiner haut. flauschiger stoff, weich und warm. fein und einladend. samtiger stoff, widerstand in eine richtung. fein und glatt in die andere. kantiger stoff, wie karton, fest und abweisend. und die farben: goldgelb, tiefblau, smaragdgrün, dunkelviolett, knallrot.


Noë lehnte sich auf dem Sofa zurück. Mit der Hand berührte sie den Stoff, fuhr darüber, versuche zu erfühlen, um was für einen Stoff es sich handelte. Sie fühlte nichts. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich ganz fest auf die Berührung ihrer Hand mit dem Sofa. Aber sie fühlte immer noch nichts. Sie konnte nicht sagen, ob das Sofa abweisend oder einladend war, rau oder weich. Sie konnte nicht sagen, ob und in welche Richtung es einen Widerstand im Stoff gab. Sie öffnete die Augen wieder, legte sich bäuchlings auf das Sofa und betrachtete den Stoff von ganz nah.

Jetzt kann sie deutlich ein Muster erkennen, Fäden, die zusammengewoben sind, die aneinander festhalten und doch einzeln bestehen. Im Wechselspiel gehen sie einmal über, einmal unter anderen Fäden hindurch. Sie sind dick. Und sie liegen eng beieinander, aber nicht so eng, dass man nicht einen kleinen Zwischenraum sehen könnte. Hinter dem Zwischenraum ist nichts, oder mehr Fäden. Oder auch nur eine Farbe. Die gleiche Farbe der Fäden. Noë versetzt sich in die Fäden, stellt sich vor, wie sie sich fühlen würde, wenn sie einer dieser Fäden wäre. Eng wäre es, und sie würde in einer Wellenlinie liegen, am einen Ort über, am anderen Ort unter einem anderen Faden durch. Aber es wäre auch bequem. Sie hätte einen festen Platz, sie würde nicht verrutschen, wäre sicher. Würde sich wohlig an die anderen Fäden anschmiegen.

Noë spürt, wie ihr linkes Auge zu zucken anfängt. Und da sie auf dem Sofa liegt, ihr linker Arm irgendwo unter ihrem Bauch vergraben, kann sie sich nicht unwillkürlich an die Schläfe fassen. Sie schliesst die Augen. Und macht sie wieder auf und findet sich in ihrem Bett wieder. Und sie liegt da, wie ein Faden in einem Gewebe, halb über, halb unter der Bettdecke. Und die Bettdecke ist ganz nah bei ihrem Gesicht und sie kann sie ganz genau anschauen. Es sind feine Fäden, die hier einmal über, einmal unter den anderen Fäden hindurch gehen. So fein, dass sie ganz glatt wirken, dass sich keine Erhebung abzeichnet, da wo sie sich um andere Fäden schlingen. Die Fäden liegen praktisch gerade, entspannt mitten im Gewebe. Und Noë legt sich ganz gerade, ganz flach in ihr Bett und stellt sich vor, dass sie ein ganz feiner Faden wäre, der im Gewebe liegt, umgeben von anderen feinen Fäden.

Später löste sie sich wieder von ihrem Fadenspiel, ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich wieder aufs Sofa. Sie schlug das Buch an einer anderen Stelle auf. Eine Holzplatte, mit Maserung und mit einem Astloch. Das Bild gefiel ihr, obwohl sie nicht genau sagen konnte, warum. Irgendwie schien es ihr vertraut.


utopia tisch, ©saschademarmels
utopia tisch, ©saschademarmels

Der Tisch ist aus mehreren Holzbrettern zusammengesetzt. Jedes hat seine eigene Maserung. Beim ersten Brett verläuft sie wellenförmig um ein Astloch, das selber aber nicht mehr zum Abschnitt im Tisch gehört. Die Ringe verlaufen parallel, jedoch nicht gleichförmig. Sie bilden eher eine Ellipse. Eine Ellipse um einen Punkt, der nicht zu diesem Tisch-Universum gehören zu scheint und es dennoch massgeblich bestimmt. Die Linien im zweiten Brett sind gleichförmig, aber sie sind mal näher zusammen, mal weiter auseinander. Sie bildeten Bahnen, suggerieren Geschwindigkeit und Dynamik. Das dritte Brett scheint kaum eine Maserung aufzuweisen. Wie eine Wüste bildet es eine Leere, bevor auf dem vierten Brett einige Spuren folgen, die wie tiefe Furchen wirken. Das Holz strahlt eine Lebendigkeit aus, die Zusammensetzung der Tischoberfläche wirkt geschaffen. Nicht natürlich, aber auch nicht unnatürlich.

Ich spüre den Drang, den Tisch zu berühren. Ich will das Holz anfassen. Ich stelle mir vor, wie es sich anfühlen würde. Etwas rau. Deutlich würde ich die Rillen wahrnehmen. Warm stelle ich mir das Material vor. Ich strecke den Finger aus. Langsam nähere ich mich der Platte. Als ich sie berühre, schrecke ich zurück. Ganz glatt hat sich das angefühlt. Ich bin irritiert über diese Empfindung. Sie entspricht so gar nicht dem, was ich erwartet habe. Glatt, fast wie aus Plastik. Kalt. Unsicher fahre ich mit dem Finger längs und quer über die Bretter. Über die Maserung, die ich vorher so genau studiert habe. Nichts ist zu spüren, keine Unebenheiten, kein Leben. Erst als ich mit dem ganzen Arm aushole und quer über die Bretter hinweg mit der ganzen Hand den Tisch zu erfühlen versuche, spüre ich wenigstens die Abschnitte, in die die Bretter den Tisch gliedern. Ganz feine, gerade Linien. Künstlich. Künstlich wirkt es auf mich.

Ich ziehe meine Hand zurück und betrachte den Tisch aufs Neue. Aber sobald ich die Hand vom kühlen, glatten Material genommen habe, konzentriert sich meine Wahrnehmung wieder auf die verschiedenen Maserungen. Mit den Augen spüre ich ihre Lebendigkeit.


Vor Noës innerem Auge entstand das Bild eines Tisches, mit Maserung und mit einem Riss. Einem Riss, der nicht spürbar war. Es war der Tisch im Café Meetingpoint. Sie hatte ihn gestern ganz genau betrachtet. Sie hatte versucht, ihn zu erfühlen. Und es war ihr nicht gelungen. Und Luis hatte den Riss auch nicht gespürt.

Das „ich“ im Tisch-Text berichtete von etwas ähnlichem. Es erfühlte einen Tisch, der sich nicht so anfühlte, wie das „ich“ angenommen hatte. Der Tisch fühlte sich künstlich an. Aber wenn das „ich“ den Tisch wieder losliess, ihn nur mit den Augen betrachtete, dann wurde er wieder lebendig. Ein ganzes Universum steckte in ihm. Noë beschloss, künftig die Dinge genauer anzuschauen, sich vorzustellen, wie die Dinge sein könnten, statt sich nur darauf zu verlassen, dass alles so war, wie es war.

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