utopia – 48: ein tropfen auf den warmen arm

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë legt sich wieder auf ihre Matratze, schliesst die Augen und versucht ganz fest aufzuwachen. Sie denkt an das Regengedicht und versucht Regen zu fühlen und ihren Körper in das Gefühl des Fühlens zu versetzen. Sie versucht sich ganz zu konzentrieren auf ihre Gefühle, auf ihren Körper.

Jetzt, wo sie weiss, dass sie nicht alleine ist, glaubt sie, dass es ihr gelingen kann. Sie horcht tief in sich und sie beginnt das Gedicht laut aus der Erinnerung aufzusagen.


gefühl von regen

sonne weg

dicke wolke

luft noch warm

bleibe liegen

einfach so

warten auf das gefühl von regen

erste tropfen

fallen sacht

schlagen klatschend auf

liege da

denke nichts

ausser gefühl von regen

schwere tropfen

immer mehr

warmes wasser

wasser auf meinem gesicht

spüre nichts

ausser gefühl von regen

regen

wasser

warmer boden

wasser

rinnt mir über die haut

erweckt in mir das gefühl von regen

18. Juni 1994


Ganz fest versucht sich Noë reinzuversetzen, in dieses Gefühl von Regen. In dieses Körpergefühl. Sie versucht zu spüren, wie die Regentropfen auf ihrer Haut auftreffen, wie sie sie sachte berühren, später heftiger aufschlagen, aber immer noch relativ weich. Wie die Tropfen dann der Haut entlang rinnen. Sie versucht die Wärme zu spüren. Auf ihrer Haut und in ihrer Nase. Und sie versucht sie zu riechen, wie sie duftet, diese Wärme. Sie versucht den Geruch des Regens auszumachen. Sie atmet tief ein.

Sie spürt die Regentropfen, wie sie auf ihre Arme tropfen, schwer und klatschend aufschlagen. Sie riecht einen süsslichen Geruch, alt und fahl und verwesend und der Regen, der ihr auf immer die selbe Stelle am Arm tropft und der Geruch ist ekelhaft und es ist warm und schwül und die Luft enthält kaum noch Sauerstoff und sie fühlt sich klebrig an, dort wo die Tropfen aufschlagen und auch sonst.

Noë öffnet langsam die Augen und es bleibt ihr fast das Herz stehen. Sie sieht in ganz schwachem Licht, dass sie irgendwo liegt, auf einem schmalen Bett, umgeben von vielen anderen Betten. Mit anderen Körpern. Die Luft ist schwer und riecht schlecht, moderig. Sie möchte sich aufsetzen, aber es geht nicht. Ihre Muskeln versagen, sie hat nicht die Kraft. Und etwas hängt an ihrem Arm, ein Schlauch, durch den eine grünliche Flüssigkeit fliesst.

Mit einem Schlag realisiert sie, was hier vor sich geht: Sie ist eingezellt, in einem Raum mit vielen anderen Menschen. Alles, was sie bisher erlebt hat, war nicht echt. Nicht die Stadt, nicht das Gebäude, nicht ihr Zimmer. Sie liegt in Wirklichkeit hier, im Dunkeln. In desolatem Zustand. Mit kaum Luft zum Atmen. Und es durchfährt sie ein weiterer Schreck: Der Geruch. Hier liegen auch tote Menschen, die verwesen. Rund um sie herum. Noë fällt in Ohnmacht.

Als sie wieder zu sich kommt, liegt sie in ihrem Zimmer, im Gebäude mit den zahllosen Fluren. Sie weiss nicht, ob sie beruhigt sein soll oder schockiert. Sie weiss, dass sie aufwachen muss, aber sie weiss auch, dass es in der Realität um sie herum einfach nur ekelhaft ist und dass sie dort nie alleine heraus kommt. Zu schwach ist sie.

Sie setzt sich an den Laptop und sucht das Nachrichtenfenster, in dem sie sich zuvor mit ihrer Grossmutter unterhalten hat. Alles um sie ist schwarz-weiss. Sie weiss nicht, ob dem Gebäude bald dasselbe Schicksal zu Teil wird wie der Stadt, die sich buchstäblich vor ihren Augen aufgelöst hat.


> Grossmutter, bist du noch da?

Ihre Hände zittern, als sie die Buchstaben eingibt. Aber es bleibt still im Nachrichtenfenster. Die Grossmutter scheint nicht mehr da zu sein. Vielleicht ist sie unterwegs zu ihr? Aber wie soll sie dann zu ihr Kontakt aufnehmen? Sie atmet tief durch. Vielleicht kommt die Grossmutter ja bald wieder. Geduld, Geduld.


> Wer ist dort?
> Grossmutter, bist du es?
> Nein, ich bin nicht Grossmutter. Ich bin C.
> C. Hallo. Ich bin Noë. Ich warte auf Grossmutter.
> Wo bis du?
> In einem Gebäude?
> In einem Gebäude? Ist es noch intakt?
> Ja. Aber es ist schwarz-weiss.
> Und bist du alleine?
> Ja, ganz alleine.
> Warst du immer schon da?
> Nein, ich habe früher in einer Stadt gewohnt. Aber sie hat sich aufgelöst. Und jetzt warte ich auf meinen Bruder, der mich aus dem Bunker befreit.
> Du weisst es also?
> Was weiss ich?
> Wo du eigentlich bist?
> Ja. Ich weiss von der virtuellen Realität.
> Bist du schon aufgewacht?
> Ja. Es war schrecklich. Und ich konnte mich nicht bewegen. Und es stank fürchterlich.
> Gut, dass dich jemand holen kommt.
> Wo bist du?
> Ich weiss es nicht. Und mich kommt niemand retten.
> Warum nicht?
> Niemand weiss, dass ich hier bin. Und wo.
> Das ist traurig. Wieso nimmst du nicht Kontakt mit jemandem auf?
> Es ist niemand mehr übrig von meiner Familie und meinen Freunden.
> Wie hast du mich gefunden? Wieso kannst du mit mir Nachrichten austauschen?
> Ich hacke mich seit langer Zeit schon in verschiedene Welten ein. Diese habe ich erst kürzlich gefunden. Sie war vorher wohl geschützt.
> Meine Grossmutter hat sie für mich programmiert. Zerfällt die virtuelle Realität?
> Ja. Früher wurde sie regelmässig repariert und täglich gerebootet.
> Was bedeutet das?
> Ist dir nie aufgefallen, dass am Morgen wieder alles so war wie immer?

Noë überlegt. Sie denkt an ihre Wohnung in der Stadt. An ihr Bild an der Wand, das immer wieder verschwunden war. Bis es irgendwann bestehen blieb. Der hingehuschte Versuch eines Flüchtlingsbootes in den Wellen.


> Ja, ich habe ein Bild an die Wand gemalt und es ist immer wieder verschwunden. Und irgendwann ist es geblieben. Es war ausgerechnet eine schlechte Version.
> Das war der Anfang vom Ende.
> Das tut mir leid.
> Nein, nicht dein Bild. Du kannst ja nichts dafür. Die Einzellungsgesellschaft ist eingegangen. Sie haben einfach alles sich selbst überlassen. Gut hattest du eine eigene Welt, wohin du flüchten konntest.
> Woher weisst du das alles?
> Ich war ein CFM.
> Was ist das?
> Ich musste die Menschen in passende Welten einteilen und versetzen lassen, wenn es nicht mehr gestimmt hat.
> Und was machst du jetzt?
> Ich suche nach einem Ausweg…
> Soll ich dich suchen kommen? In der Realität?
> Ich weiss noch nicht einmal, auf welchem Kontinent ich mich befinde.
> Oh…
> Aber du solltest aus VR verschwinden, so lange du noch kannst. Die Menschen sterben langsam. Die Drogen gehen aus. Und die hygienischen Bedingungen… Du hast es gesehen, als du wach warst. Geh, wach auf und versuche den Ausgang aus dem Bunker zu finden.
> Aber… Du?
> Du kannst mir nicht helfen. Also geh, wach auf!

Noë ist verunsichert. Sie fühlt sich alleine. Und sie hat grosses Mitleid mit C. Und gleichzeitig spürt sie die Dringlichkeit: Sie muss hier raus. Sie muss raus und sie muss Mat finden. Oder Tam. Da blinkt noch einmal eine Nachricht auf:


> Noë, bist du noch da?
> Grossmutter?
> Ja, mein Schatz!
> Grossmutter, ich habe es geschafft aufzuwachen. Aber es ist schrecklich. Um mich herum liegen Menschen, mehr tot als lebendig. Und ein Schlauch steckt in meinem Arm.
> Noë, du musst jetzt stark sein. Tam ist unterwegs zu dir. Wach auf und versuch aufzustehen. Nimm die Infusion aus deinem Arm. Dann kannst du auch wach bleiben. Versuch dich langsam zu bewegen.
> Ok, Grossmutter, ich versuche es. Wartest du auf mich?
> Ja, Noë, das mache ich. Nun geh! Wir sehen uns bald.

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