utopia – 49: der bunker hinterlässt spuren

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

„ Alvina. Gut, dass ich dich gleich antreffe. Noë ist bereit. Sie weiss Bescheid. Wahrscheinlich ist sie mittlerweile schon aufgewacht. Wir müssen sie sofort abholen.
„ Tam. Ist sie stabil? War die virtuelle Realität noch intakt?

„ Ja, ich glaube. Wir hatten ein Problem mit dem Generator. Aber die Welt hat sich wieder stabilisiert. Noë ging es gut. Als ich los bin. Bitte, wir müssen uns beeilen.
„ Tam, du warst nie da. Es ist hässlich in dem Bunker.
„ Ich muss Noë finden. Ich muss sie retten.
„ Ok, dann komm mit. Du musst aber eins wissen: Es ist nicht nur hässlich, es ist auch gefährlich.
„ Die Bunker sind doch nicht mehr bewacht?
„ Nein, aber mittlerweile sind sie zum Teil einsturzgefährdet. Und überall liegen… Die Eingezellten sind sich selber überlassen.
„ Leichen, ich weiss. Ich denke nur an Noë.
„ Wir haben am Anfang versucht, sie wegzuschaffen. Aber es sind zu viele, wir sind zu wenige. Und teilweise gibt es reihenweise keine Überlebenden mehr.
„ Hey, es ist ok. Ich bin nur froh, wenn ihr mir zeigt, wo Noë ist. Ich muss ihr helfen. Vielleicht liegt sie jetzt wach da drin. Wir müssen sie raus schaffen.

„ Wir gehen quer durch das alte Flüchtlingslager.
„ Ist das gefährlich?
„ Nein, es ist niemand mehr hier. Die Flüchtlinge wohnen nun da drüben, in diesen Hochhäusern.
„ Ich meine, wegen wilden Tieren?
„ Nein. Keine wilden Tiere mehr. Der Regen…
„ Meinst du, Noë wird vielleicht wütend?
„ Wütend?
„ Oder enttäuscht? Wenn sie diese Welt hier sieht?
„ Es ist nicht so, dass sie jetzt noch eine Chance hätte.
„ Und wenn… ich meine… Ich weiss nicht.
„ Erinnerst du dich an früher? Wie alt warst du beim Kollaps, 3, 4?
„ Ich erinnere mich an einzelne Dinge.
„ Sie vielleicht auch.
„ Es ist nur: Ich kann ihr nichts bieten. Vielleicht hatte sie es bis jetzt schöner?
„ Komm jetzt, wir gehen da lang.

„ Noë liegt im Bunker BLW553. Der Eingang ist verschüttet. Wir nehmen den Weg durch den Bunker QC. Hier lang.

„ Hier, aufpassen. Wir steigen über jene Treppen. Halte dir ein Tuch vor die Nase.
„ Wie schlimm wird ihr Zustand sein? Wird sie selber gehen können?
„ Wir werden sie stützen. Und über diesen Leichenberg werden wir sie ziehen und schieben. Es wird nicht schön. Aber es wird gehen. Pass auf.
„ Wird sie sprechen können? Wird sie … normal sein?
„ Wir haben schon alles mögliche gesehen. In den meisten Fällen, wenn jemand schon in VR begriffen hat, dass es sich um eine virtuelle Realität handelt, dann geht es nachher.
„ Was ist mit der Zerstörung des Hypothalamus?
„ Wenn der Hypothalamus angegriffen war, haben die Eingezellten nicht überlebt. Dann wäre Noë auch in VR nicht ansprechbar gewesen. Du hast mir ihr gesprochen, oder?
„ Ja. Ja, sie war normal.
„ Pass auf hier. Wir gehen aussen rum. Berühr keinen von den Schaltern hier.

„ Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm ist.
„ Niemand glaubt das.
„ Dass ihr das durchgehalten habt, all die Jahre.
„ Man wird abgehärtet.
„ Wirklich?
„ Nein. Niemals. Aber… Du willst unsere Hilfe, nicht wahr?
„ Ich bin froh, gibt es euch! Meine Grossmutter auch, Frerika.
„ Wir waren immer auch froh um ihre Hilfe. Ich hoffe, es geht ihr bald besser.

„ Hier, schau auf den Plan. Noë liegt hier. Hier war der Weg schon letztes Mal prekär. Wir gehen hier rum.
„ Wie lange kann sie überleben, wenn sie wach ist?
„ Sie ist sowieso geschwächt. Zwei Tage. Wir finden sie.

Noch bevor Noë die Augen aufschlägt, nimmt sie bereits wieder den widerlichen Geruch war. Aber sie weiss: Es gibt keinen Weg zurück. Sie nimmt einen tiefen, virtuellen Atemzug, macht die Augen auf und sieht, dass noch immer etwas auf ihren Arm heruntertropft. Sie liegt ein paar Augenblicke völlig steif da, dann erinnert sie sich, dass sie sich jetzt als erstes von der Infusion befreien muss. Sie sucht nach dem Schlauch. Der Arm schmerzt. Sie hat kaum Kraft, ihn zu heben. Sie findet aber den Schlauch und die Nadel, die in ihrem Arm verschwindet und zieht kräftig daran. Sie verspürt eine leichte Sogwirkung tief in ihrem Arm und hört ein leichtes Schmatzen. Die Nadel ist draussen. Die grünliche Flüssigkeit läuft aus dem Schlauch und tropft auf den Boden.

Sie würde so gerne einen tiefen Atemzug nehmen, zur Besinnung kommen. Aber sie fürchtet sich vor dem moderigen Geruch und atmet darum ganz flach. Im Halbdunkeln versucht sie sich zu orientieren. Sie liegt auf einem schmalen Bett. Knapp über ihrem Körper scheint das nächste Bett zu sein. Sie blickt auf die gegenüberliegende Seite und sieht, wie sich vier Lagen Betten übereinander stapeln. Sie ist auf der dritten Etage. Da der Platz zu knapp ist um sich aufzusetzen, rutscht sie langsam über die Kante und macht sich auf eine harte Landung gefasst. Weil ihre Muskeln aber ganz weich sind, schmerzt es nicht so schlimm. Sie fühlt sich wie ein Pudding, der vom Tisch gefallen ist.

Auf dem Boden angelangt, beginnt Noë ganz praktisch ihren Plan zu überdenken: Wie soll sie hier jemals wieder aufstehen? Sie kann sich nur mit Mühe überhaupt bewegen. So versucht sie einfach, einmal gedanklich ihre Muskeln zu sortieren:

Wo bist du, mein rechtes Bein. Wo beginnst du? Wo hörst du auf? Wie fühlst du dich an? Schwer. Ganz schwer. Irgendwie platt. Und was ist da? Ein Fuss. Er fühlt sich füssig an. Füssern. Mit Zehen. Und das? Kaltes etwas, hart blank. Der Boden drückt gegen meine Ferse.
Und wo bist du, mein linkes Bein? Hast auch du einen Fuss? Mit Zehen? Und auch eine Ferse ist dabei. Sie fühlt sich warm an. Etwas geprellt. Und da? Ein Knie. Etwas verrenkt. Eckig, knieern.

Langsam arbeitet sie sich durch den ganzen Körper. Lernt alle ihre Körperteile kennen, merkt, wie sie sich anfühlen und versucht ganz langsam, Muskeln zu finden, die sich anspannen lassen. Obwohl sie so am Boden liegt, zwischen all den Bettregalen, ist das ganz schön anstrengend. Aber sie spürt, wie sie langsam Fortschritte macht. Als sie zum Kopf kommt, merkt sie, dass ihr da alles weh tut. Sie hat höllische Kopfschmerzen und jetzt bemerkt sie noch ein anderes Gefühl: Durst. Unendlichen Durst. Aber sie hat weder Wasser noch ein Mittel gegen Kopfschmerzen und so verlässt sie gedanklich wieder den Kopf und konzentriert sich auf Beine und Arme.

lichtschein, ©saschademarmels
lichtschein, ©saschademarmels

Es gelingt ihr, sich aufzurichten, sich am Bett hochzuziehen. Sie kommt dem Körper sehr nah, der da liegt. Und sie weiss, dass sie in diesem Moment nicht wissen möchte, ob er lebendig ist oder tot. Sie möchte hier raus. Sie muss hier raus. Und so bewegt sie sich in Zeitlupentempo dem Licht entgegen. Es ist nicht möglich, einen Überblick über den Raum zu erhalten. Denn überall stapeln sich die Betten. Darum ist ihr einziger Zielpunkt dieses schwache Licht aus der Ferne.

„ Was, wenn sie schon aufgewacht ist und jetzt ziellos im Gebäude herumirrt?
„ Sie kommt nicht weit. Mach dir keine Sorgen.
„ Kann sie sich verletzten? Vielleicht ist sie in Gefahr.
„ Wir sind alle in Gefahr… Der einzige Weg, der frei ist für jemanden in ihrem Zustand ist hier nach Süden. Wir werden sie finden. Passt auf hier.

Noë macht in der Ferne eine vage Bewegung aus. Vielleicht mehr ein Wechsel im Licht als irgendetwas anderes. Könnte das Tam sein? Kann sie rufen? Sie öffnet den Mund, aber es kommt kein Ton heraus. Sie versucht es noch einmal. Aber mehr als ein vertrocknetes Krächzen schafft sie nicht. Sie hält sich links und rechts an den Bettgestellen fest und arbeitet sich weiter auf das Licht zu.

„ Dort bewegt sich etwas hinter der Scheibe. Ist sie das?
„ Ich kann nichts erkennen. Und ich weiss ja nicht… Sieht sie so aus wie in VR?
„ So ungefähr. In viel schlechterem Zustand natürlich.
„ Wie kommen wir da rein?
„ Wir können dort hinten herum gehen. Oder… Wir schlagen hier diese Scheibe ein. Vorsicht.
„ Was ist mit den Menschen da?
„ Die sind tot. Siehst du das rote Licht?
„ Ah. Ok. Und jetzt?
„ Jetzt klettere ich da rüber und schiebe das Bett vorne hin. Aufgepasst.
„ Danke.

Noë hört ein Klirren von Glas und dann Stimmen. Tam. Es muss Tam sein. Könnte es jemand anderer sein? Muss sie sich verstecken. Sie merkt, dass sie keine Kraft hat für solche Überlegungen. Sie arbeitet sich eisern weiter vor. Immer dem Licht entgegen. Und da, da sieht sie ihn. Er sieht ähnlich aus wie Mat. Es muss Tam sein. Sie krächzt und dann sackt sie in sich zusammen.

Tam rennt auf sie zu. „Noë! Noë, jetzt wir alles gut. Ich habe dich! Wir haben dich gefunden! Wir haben sie gefunden.“ Tam beugt sich zu ihr runter, sie öffnet die Augen und krächzt etwas, was nicht verständlich ist. Aber sie schafft es zu lächeln. „Wir bringen sie raus. Kommt, wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Tam blickt in Noës Gesicht. Und Noë blickt ins Tams Gesicht. Sie erkennen sich. Sie wissen, dass sie Geschwister sind. Alles wird gut. Noë lässt sich von zwei Männern stützen und versucht, nicht wieder völlig zusammen zu sacken.

Und so beginnt der Rückweg durch den Bunker, über eingefallene Flure, über Betten und über Leichenberge. Immer im Dämmerlicht. Irgendwann müssen sie verweilen, wieder etwas zu Atem kommen, soweit das in dieser schlechten Luft überhaupt möglich ist.

Noë blickt sich um. Und plötzlich starrt sie fassungslos auf ein Gesicht vor ihr. Luis! Es ist Luis, ihr Luis, aus der Stadt-VR. Sie krächzt. Streckt ihre Hand aus. Aber Luis rührt sich nicht. Alvina geht zu Luis, umfasst sein Handgelenkt. Sie schüttelt den Kopf. „Nichts mehr zu machen.“ Noë versteht. Und eine Tränen rollt ihr aus dem linken Auge. Gleichzeitig fragt sie sich, woher diese Träne kommt, wenn sie sich doch so durstig und ausgetrocknet fühlt. „Wir müssen weiter. Kommt jetzt.“

Sie haben es geschafft: Vor ihnen liegt die Türe ins Freie. Und als Noë den ersten, gestützten Schritt in die echte Welt macht, muss sie gleich wieder weinen. Sie holt tief Luft, frische, klare Luft. „Sie scheint nur frisch, in Wirklichkeit ist sie hoch belastet… Aber mach nur, atme. Und hier, trink einen Schluck Wasser. Aber langsam. Nur einen kleinen Schluck. Dein Körper muss erst wieder in Gang kommen.“

Noë befühlt mit ihrer Zunge das Wasser in ihrem Mund. Sie spürt, wie ihr Körper es praktisch einsaugt. Es schmeckt neutral, nach Wasser, nicht süsslich, nicht herb. Es schmeckt wässerig. Es fühlt sich gut an. Erfrischend. Flüssig. Es rinnt den Hals herunter, sie spürt die Rauheit ihrer Speiseröhre gegen die Wassertropfen. Sie spürt die Mündung der Speiseröhre in den Magen. Sie will mehr, mehr, mehr. Aber der Mann nimmt ihr die Flasche wieder weg. Er guckt ihr tief in die Augen und sagt noch einmal „Langsam!“. Noë räuspert sich und obwohl ihre Stimme immer noch krächzend klingt, bringt sie jetzt ein „Danke!“ heraus. Die Männer und Alvina nicken und Tam umarmt sie.

Die Stadt liegt im Dämmerlicht. Vereinzelt sind Häuser und Zelte erkennbar. In den Hochhäusern schimmern schwache Lichter aus den Fenstern. Alles ist grau, zubetoniert. Keine Bäume, keine Pflanzen. Sie kommen an einem staubigen Platz vorbei. Noë erkennt ein Schild mit der Aufschrift „Rasen betreten verboten!“. Ein leichter Wind kommt auf und wirbelt Staub auf. Die Männer verteilen Planen. „Nur zur Sicherheit, falls es zu regnen beginnt.“ Noë denkt an das Regengedicht und erahnt, dass sie sobald keinen Regen auf ihre Haut tropfen fühlen wird.

„Ich fahre euch mit dem Laster aufs Land. Wir haben neue Rationen an Lebensmittel und Wasser zum Verteilen.“ Alvina setzt sich ans Steuer, Tam legt Noë auf die Rückbank. Die anderen beiden Männer setzen sich auf die Beifahrersitze. Alle sind still. Der Bunker hinterlässt spuren. Sie fahren los und in die Nacht hinein.

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2 Gedanken zu „utopia – 49: der bunker hinterlässt spuren“

    1. Liebe Sascha

      Herzlichen Dank für utopia – 49 zu meiner Pensionierung.
      Werde utpoia – 49 speziell geniessen.
      Liebe Grüsse Felice :-))

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