utopia – 47: die grossmutter aus der dose

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

„ Grossmutter? Du warst nie bei den Bunkern?
„ Nein, Tam. Ich war nie selber dort.
„ Was, wenn Noë aufwacht? Wird sie sich zurechtfinden? Findet sie raus?

„ Sie wird ziemlich überwältigt sein. Und ihr Körper schwach. Jemand muss sie rausholen. Alvina weiss, wo sie liegt.
„ Dann muss ich in die Stadt fahren. Sofort. Ich muss Alvina suchen, wir müssen zu Noë.
„ Ja, Tam. Es ist Zeit. Ich werde versuchen, sie über das alte Internet zu kontaktieren. Ich werde ihr sagen, dass du kommst. … Und Tam …
„ Ja, Grossmutter?
„ Ich hatte euch immer sehr lieb und mir tut das alles so schrecklich leid. Bitte vergiss das nicht.
„ Nein, Grossmutter. Ich habe dich auch lieb. Und Noë hat dich auch lieb, ganz bestimmt!


der ritter in der silbernen rüstung reitet in einem fort von ort zu ort und sucht nach dem ungeheuer, nach der prinzessin, nach der herausforderung. was ist ein ritter ohne ein abenteuer. ein zerquetschtes bisschen etwas in einer dose. es gehören immer zwei zusammen. ein ritter und eine prinzessin. es muss so sein. es war immer schon so. was macht der ritter, wenn die prinzessin selber fechten kann? was macht die prinzessin, wenn der ritter lieber im wald spaziert? sie müssen zusammen sein, sie müssen immer denselben weg gehen, sonst fällt die welt aus dem gleichgewicht.


Noë liegt auf ihrer Matratze. Es ist wohl doch keine Nährungszelle. Die richtige Nährungszelle, wenn es denn so etwas wirklich gibt, liegt in einer anderen Realität. Und Noë weiss nicht, wie sie dahin kommen kann. Sie überlegt fieberhaft, was sie tun könnte. Aber es fällt ihr nichts ein. Sie versucht sich zu erinnern, ob sie denn irgendwann einmal Kontakt gehabt haben könnte mit der echten Realität. Und wie sie das gemacht hat. Aber auch dazu fällt ihr nichts ein. Schliesslich setzt sie sich doch wieder an den Computer.

Sie weiss, dass sie nicht wissen kann, ob all die Texte jemals echt waren und was sie mit ihr und mit der virtuellen Realität zu tun haben. Aber sie hat sonst nichts, an dem sie sich orientieren könnte. In den Berichten zur Einzellung hat sie gelesen, dass es möglich ist zwischen virtueller und echter Realität zu kommunizieren. Angenommen, dass das wahr war, könnten die Texte aus dem Internet echt sein. Und sie könnte versuchen, mit jemandem Kontakt aufzunehmen. Sofern es denn noch jemanden gibt. Denn wenn nicht nur das Internet, sondern die ganze Gesellschaft aufgehört hat zu existieren, dann… Sie weiss nicht, was dann ist. Sie kann sich nicht einmal vorstellen, was dann sein könnte.

Sie öffnet ein Fenster in ihrem Browser und überlegt, was sie eingeben, wonach sie suchen könnte. Da blinkt in der Ecke ein golden schimmernder Pfeil auf. Sie klickt ihn an und es öffnet sich ein Nachrichtenfenster. Das ist neu, das hat sie bisher noch nie gesehen. Vielleicht will jemand mit ihr in Kontakt treten. Vielleicht sogar jemand von der echten Realität. Zaghaft gibt sie ein:


> Hallo? Ist jemand da?
> Noë, mein Schatz! Du lebst!
> Ja, ich lebe. Aber wo?
> Wo denkst du denn, dass du lebst?

Noë ist plötzlich verunsichert. Sie hat ja keine Ahnung, mit wem sie da spricht. Vielleicht darf sie nicht so offen sagen, was sie denkt. Vielleicht sind die anderen Menschen aus der virtuellen Realität verschwunden, weil sie verraten hatten, dass sie alles wussten, dass sie wussten, dass sie in einer virtuellen Realität waren. Also besser etwas vorsichtig sein.


> Wer ist da?
> Ich bin es, deine Grossmutter. Frerika Vester. Die Mutter deiner Mutter.

Noë überlegt. Sie kennt den Namen nicht. Aber: Die Homepage mit den Landschaftsbildern, die war von Jara Vester Kaufmann. Und Jara hat Kinder. Kann es sein, dass Jara ihre Mutter ist?


> Wie heisst meine Mutter?
> Jara. Jara Vester Kaufmann.
> Und mein Vater?
> Leon Kaufmann.

Leon Kaufmann. Der Mann aus dem Forum. Der Mann, der so viel weiss über Jared Diamond. Das ist ihr Vater? Ist er ihr Vater? Unterhält sie sich gerade mit ihrer Grossmutter? Noë überlegt, was sie noch fragen könnte. Was sie fragen könnte, um herauszufinden, ob das wirklich ihre Grossmutter ist. Aber sie hat ja keine Erinnerungen mehr an ihre Kindheit. Ausser vielleicht… Der kleine Maulwurf, der sich vor dem Milchmann fürchtet.


> Was ist mit dem Maulwurf?
> Welcher Maulwurf?
> Der kleine Maulwurf? Was macht er?
> Er spielt mit seinen Freunden.

Nun gut, der Maulwurf spielte auch mit seinen Freunden. Aber das hilft ihr so natürlich nicht weiter.


> Und was noch?

Noë wartet auf eine Antwort. Schliesslich blinkt sie auf.


> Er hat Angst vor dem Milchmann.

Noë atmet auf. Aber ganz zufrieden ist sie noch nicht. Ganz sicher kann sie nicht sein. Da blinkt erneut eine Nachricht auf:


> I bin es chliises Müüsli, und winzig isch mis Hüüsli, und muäni öppis Zfresse haa, denn weiss i nöd wo anegoh

Noës Herz macht einen Sprung. Daran kann sie sich erinnern. Das ist ihr Kinderlied. Sie summt leise mit.


> Im Feld tuänds mi väjaage, und s Chätzli tuät mi plooge, und gangi ines grosses Huus, rüeft Gross und Chli e Muus, e Muus
> Du bist also meine Grossmutter?
> Ja, Noë, das bin ich.
> Und wie hast du mich gerade jetzt gefunden?
> Nicht gerade jetzt, schon lange. Ich begleite dich schon seit Jahren. Ich habe dir immer wieder Nachrichten geschickt.
> Das warst du? Die Zeitung?
> Ja, die Zeitung. Und auch die Gedichte und die Gedanken.
> Alles von dir?
> Ja, Noë, das alles habe ich dir geschickt. Auch das Internet mit all den Informationen. Und früher, als du noch kleiner warst, habe ich dir auch Geschichten geschickt. Den kleinen Maulwurf und Alice und Luis.
> Luis
> Ich
> Es
> Noë, ich muss dir etwas wichtiges sagen. Aber erst musst du mir sagen, wie es dir geht und wo du bist. Es ist wirklich wichtig.

Noë zögert. Was soll sie antworten? Was kann sie sagen? Wie kann sie das in Worte fassen, was sie hier erlebt, besonders das, was sie in letzter Zeit erlebt hat?


> Ich weiss nicht, wo ich bin. Ich bin in einer virtuellen Realität. Aber ich weiss nicht, wo sich mein Körper befindet.
> Ok. Noë, es wird alles gut. Hör gut zu:
> Aber, ich kann nicht aufwachen und bin ganz alleine.
> Alles wird gut, glaube mir nur! Dein Bruder Tam ist unterwegs zu dir. Er wird deinen Körper finden. Er wird dich aufwecken, wenn du bist dahin nicht schon selber wach geworden bist.
> Tam? Mein Bruder?
> Ja, du kennst ihn schon. Es ist der Mann aus dem Rosengarten.
> Mat ist mein Bruder?
> Ja, Noë. Er hat mir geholfen, dich auf den richtigen Weg zu bringen. Denn um zu überleben, muss man selber merken, dass man sich in einer virtuellen Realität befindet.
> Ok, was kann ich tun?
> Versuch aufzuwachen. Und erschrick nicht, wenn du aufwachst. Du liegst irgendwo, in einem Bunker. Denk nicht daran. Denk lieber daran, dass dein Bruder dich abholen kommt. Und dann werden wir uns persönlich sehen.
> Gut, ich versuche aufzuwachen.

zurück | weiter

Immer, wenn ich ein neues Kapitel zum Utopia-Projekt veröffentliche, verschicke ich ein Benachrichtigungsmail. In der Seitenleiste links kann man sich dafür einschreiben.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.