utopia – 21: eine virtuelle realität für die flüchtlinge

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë schlug die Zeitung auf und war gespannt darauf, was sie heute für Informationen finden würde. Auf der zweiten Seite leuchtete ihr ein Artikel über Flüchtlinge und Dichtestress entgegen. Sie beschloss, ihm eine Chance zu geben.

Um sich darauf vorzubereiten, überlegte sie sich, was sie bisher über die Flüchtlinge erfahren hatte: Die Flüchtlinge flohen vor Naturkatastrophen und Hungersnöte, aber auch vor Armut und sie wussten, dass es die Menschen andernorts besser hatten. Sie machten sich auf den Weg dorthin, wo sie dachten, dass es ihnen besser gehen würde. Aber dort waren die Menschen nicht erfreut über den Besuch der Flüchtlinge. Sie wollten sie nicht aufnehmen und die Flüchtlinge strandeten irgendwo, wenn sie vorher nicht ums Leben kamen. Irgendwann wurden sie wieder nach Hause gebracht und von dort machten sie sich wenig später wieder auf um andernorts eine bessere Zukunft zu suchen.

Der Artikel, den Noë nun vor sich hatte, versprach eine Lösung, mit der alle, die Flüchtlinge und die Nicht-Flüchtlinge zufrieden sein könnten. Und das liess ja schon einmal hoffen. Endlich, endlich präsentierte die Zeitung eine Lösung, nachdem sie vorher so viel Chaos gestiftet hatte.


7. Juli 2018
In der Virtuellen Realität ist Platz für alle

Während vor ein paar Jahren der Dichtestress noch grossflächig geleugnet wurde, ist er nun in aller Munde. Niemand mehr bestreitet heute, dass die Menschen an die Grenzen der räumlichen Belastbarkeit kommen, vor allem aber, dass sich die irdischen Ressourcen einem Ende zuneigen. Ein internationales Team präsentiert nun mit der Einzellung eine Lösung.

Unter dem Namen SIN-GL ING. hat sich letzte Woche ein Unternehmen gebildet, das sich mit der Technologie der Einzellung beschäftigt und diese Technologie zur breiten Marktfähigkeit bringen will. Es handelt sich dabei um eine virtuelle Realität, welche Menschen aufnehmen soll, die in dieser Welt nicht mehr genug Platz haben. Das Unternehmen will weltweit tätig werden und setzt sich jetzt schon aus einer internationalen Belegschaft aus Wissenschaftlerinnen und Ingenieuren der Bereiche Psychologie, Soziologie, Informatik und Biologie sowie Medizin zusammen.

Technologie der Einzellung

Die Idee dahinter ist einfach: Während der Platz hier auf der Erde immer knapper wird, bietet VR, eine virtuelle Realität, unbeschränkten Raum und ungeahnte Möglichkeiten. Jeder Menschen kann in VR so viel Platz beanspruchen, wie er möchte. Die VR wird nach eigenen Wünschen programmiert, das heisst, man kann auswählen, wo man gerne leben würde: Am Meer, in den Bergen, in einer Stadt, in völliger Einsamkeit. Man kann sich sogar phantastische Szenarien ausdenken wie beispielsweise ein Holzhaus auf dem Mars. Der Vorstellungskraft sind keine Grenzen gesetzt.
Ebenfalls ist es möglich, sich seine Nachbarn und seinen Freundeskreis frei auszuwählen, unabhängig davon, wo diese auf der Erde leben. Das selbe gilt für Beruf und Freizeit: Was immer man sich wünscht, lässt sich einfach programmieren. In VR ist man an keinerlei physikalische Gesetze gebunden. Nur an medizinische und darum kümmert sich eben dieses neue Unternehmen.
Die Sache sei ganz einfach, beschreibt der frisch gewählte CEO. Man lege sich auf eine sogenannte Nährungszelle. Das ist eine Art Matratze, die aber mit verschiedenen Sensoren ausgestattet ist. Die Sensoren analysieren fortwährend den Körper und seine Bedürfnisse: Hat jemand Hunger oder Durst oder ist jemand sogar krank, werden automatisch entsprechende Nährstoffe oder Medikamente in den Körper geleitet. Die Nährungszelle gibt auch Impulse ab, welche einerseits dem Geist in der VR das Gefühl von Bewegung und Widerstand weitergeben, andererseits auch dafür sorgen, das die Muskeln im Körper sich nicht zurückbilden. So kann man nach belieben wieder aufstehen und sich in der Realität bewegen, wenn man das will. Die Verantwortlichen von SIN-GL ING. bezweifeln allerdings, dass es dazu kommen wird, denn wer möchte schon in unserer überbevölkerten Welt leben, wenn er sich stattdessen in seinem persönlichen Paradies aufhalten kann. Denn das Gehirn ist an die VR angeschlossen, d.h. die Menschen nehmen die VR als ihre normale Umgebung war.

Ungeahnte Vorteile der VR

Wir leben in einer Welt, wo die Zahl der Flüchtlinge exponentiell anwächst. SIN-GL ING. sieht sich hier auch als Helfer in der Not. So viele Menschen sind in ihrer Heimat nicht mehr erwünscht, finden aber auch kein anderes Land, das sie aufnehmen möchte. Sie befinden sich sozusagen zwischen den Welten, heimatlos, verloren. Die VR bietet ihnen ein neues Zuhause und erst noch die Wahl, ob sie in altbekannten oder völlig neuen Umgebungen weiterleben möchten.
Vielen Menschen, auch solche, die ihre Heimat nicht verloren haben, fühlen sich zunehmend gestresst. Fachpersonen sprechen hierbei von Dichtestress: Der Raum wird immer enger. Auch solche Menschen können sich in die VR begeben und haben dort so viel Platz, wie sie brauchen.
Das Unternehmen SIN-GL ING. sieht sich hier auch in der Verantwortung. Die Politik verschliesse seit Jahren die Augen vor Ressourcenknappheit und Wirtschaftskrise, vor Klimaerwärmung und Flüchtlingsströmen. Jetzt stehe die Lösung vor der Vollendung. Die Geschäftsleitung geht davon aus, dass die Politik das Unternehmen weltweit unterstützen wird.

Der Name ist Programm

Hinter der Abkürzung SIN-GL Ing. verstecken sich viele Fachwörter, die für das Fachwissen des Unternehmens haften: Symbiotic Integral Neurotech -- Generous Life Ingeners. Symbiotic steht eigentlich dafür, dass verschiedene Lebensformen gut miteinander zusammenleben können. Bei der Einzellungstechnologie werden die Lebensform in der Realität und in der VR symbiotisch miteinander verknüpft. Integral bedeutet ganzheitlich, d.h. SIN-GL Ing. möchte nicht nur das Überleben sichern, sondern es möchte ein gutes Leben erschaffen, sowohl für den Körper, wie auch für den Geist. Die Neurotechnologie schliesslich verbindet die programmierte Computerwelt mit dem menschlichen Hirn. Die Mitarbeitenden verstehen sich als Erfinder und Erschaffer eines besseren, grosszügigen Lebens (generous life). Das Wort „Ingener“ beinhaltet genau diese Komponenten. Und: Es stammt aus dem Werk von Shakespeare. Darauf ist die Geschäftsleitung besonders stolz, denn damit steht das Unternehmen nicht nur für die Zukunft, sondern es beruft sich auch auf die grossen Werte der Vergangenheit.

Noë dachte an die Flüchtlinge, und dass jetzt alles gut werden würde. Sie hatten ein neues Zuhause gefunden und erst noch eines, dass sie nach Belieben mitgestalten konnten, ganz nach ihren Wünschen. Und sie konnte sicher mit Luis über diese Technologie sprechen, denn immerhin war das ja sein Spezialgebiet. Sie machte sich sofort auf zum Café Meetingpoint und schon von unterwegs fragte sie bei Luis nach, ob er da war, ob er sie dort treffen könne.

Luis war da, er wartete bereits auf Noë. Und voller Freude berichtete sie ihm vom Artikel über die Einzellung und über die Lösung zum Flüchtlingsproblem. Aber Luis hatte noch nie etwas von der Einzellung gehört. Die Technologie sagte ihm gar nichts. Es musste etwas ganz brandneues sein. In seinen Fachzeitschriften auf jeden Fall war darüber noch nie berichtet worden. Noë war etwas enttäuscht. Luis tröstete sie. Sicher würden bald auch in seinen Zeitschriften Berichte erscheinen und dann konnten sie darüber diskutieren. Und jetzt schon freute er sich mit ihr, dass die Flüchtlinge ein neues Zuhause gefunden hatten.

zurück | weiter

Immer, wenn ich ein neues Kapitel zum Utopia-Projekt veröffentliche, verschicke ich ein Benachrichtigungsmail. In der Seitenleiste links kann man sich dafür einschreiben.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.