utopia – 22: blaue beeren für die flüchtlinge

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë war zufrieden, dass die Flüchtlinge nun eine bessere Zukunft vor sich hatten. Sie hatten alle Möglichkeiten der Welt. Sie konnten sich eine eigene Welt, nach eigenen Vorlieben erschaffen. Das war noch besser, als wenn sie von ihrer Heimat in ein anderes Land hätten auswandern können. Jetzt konnten sie alles so gestalten, wie es für sie selber perfekt war.

Sie fragte sich, was sie sich denn wünschen würde, wie sie ihre Welt gestalten würde, wenn sie das Glück hätte, in VR zu wohnen, der virtuellen Realität, die man sich selber programmieren konnte. Aber es fiel ihr gar nichts ein. Sie war doch zufrieden damit, wie die Welt, ihre Welt, war. Sie hatte eine Wohnung, besass einige Bücher, erhielt jeden Tag eine Zeitung. Sie hatte Friends, die ihr Nachrichten schickten und die ab und zu eine Nachricht von ihr liketen. Und sie hatte einen besonderen Freund, Luis, der für sie da war. Sie war wunschlos glücklich. Und sie verfasste eine Nachricht an ihre Friends, dass sie wunschlos glücklich sei. Und elf ihrer Friends liketen dies und sieben schrieben, dass es ihnen gleich ging.

Noë überlegte, ob es denn schon immer so gewesen war. Ob sie schon immer hier gelebt hatte, in dieser Wohnung. Sicher hatte sie früher einmal Eltern gehabt. Sie erinnerte sich an den Maulwurf. Eine Kindergeschichte. Sie musste also einmal ein Kind gewesen sein. Und jedes Kind hatte Eltern. Aber dann war sie eben gross geworden, erwachsen. Und jetzt lebte sie alleine. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie immer schon in dieser Wohnung gelebt, aber sie war vielleicht einfach schon so alt, dass sie sich nicht an das erinnern konnte, was vorher gewesen war.

Die Flüchtlinge dagegen, die erinnerten sich wohl schon noch daran, wo sie vorher gewesen waren. Und wahrscheinlich erinnerten sie sich auch daran, dass sie schon vorher einmal geflüchtet waren. Denn wenn sie zurück geschickt wurden in ihre Heimat, dann brachen sie ja wieder zum nächsten Versuch auf. Sie erinnerten sich vermutlich daran, dass es ihnen gut gefallen hatte, dort, wo sie eigentlich hin wollten. Oder vielleicht erinnerten sie sich auch einfach an die schöne Reise und dass sie viel Spass gehabt hatten.

Allerdings erinnerte sich Noë nun daran, dass viele Flüchtlinge auf dieser Reise starben, verhungerten, verdursteten oder ertranken. Und an noch etwas erinnerte sie sich: Dass viele Flüchtlinge traumatische Erlebnisse hatten und diese irgendwie verarbeiten mussten. Und dass sie das taten, indem sie beispielsweise malten.

Sie überlegte, ob sie selber wohl auch traumatische Erlebnisse hatte. Aber sie konnte sich ja nicht mal an etwas von früher erinnern. Und darum versuchte sie sich vorzustellen, was die Flüchtlinge wohl erlebten und wie sie sich fühlten. Sie stellte sich vor, auf einem Gummiboot in einem riesigen Meer zu treiben und nicht zu wissen, wohin sie getrieben würde und was dort mit ihr passieren würde. Sie stellte sich vor, wie der Wind ihr ins Gesicht bläst und an ihren Kleidern zerrt. Und wie ihr das salzige Meerwasser ins Gesicht schlägt von den Wellen. Und wie ihr die Sonne aufs Gesicht scheint und sie fast verbrennt. Und sie stellt sich vor, wie sie da zusammengepfercht ist mit anderen Menschen, Menschen die sie nicht kennt und die wie sie alle ums Überleben kämpfen und keiner hat mehr etwas zum Trinken und sie haben seit Tagen nichts gegessen. Und das Boot hat ein Loch und Wasser dringt ein und sie hat nasse Füsse und die Füsse werden kalt und immer kälter und ihr wird kalt und kälter und dann wird ihr warm, weil sie Fieber hat, weil sie mit nassen Füssen in einem Gummiboot steht und versucht Land zu erreichen aber da ist kein Land und kein Land will sie aufnehmen. Und Noë ist ganz erschöpft und müde und sie kann nicht mehr und am liebsten würde sie über Bord springen, in dieses Meer hinein und sie würde nach Atlantis schwimmen, zu dieser wundersamen Insel, wo alles gut wird. Sie hat davon gelesen. Und sie ist traurig, weil sie weiss, dass es Atlantis nicht gibt, und weil sie nicht hierher gehört, in dieses Boot und weil sie niemanden kennt und niemanden hat, keine Freunde und sie hat auch kein Wasser mehr und sie weiss nicht weiter.

Noë setzte sich auf dem Sofa zurecht. Sie zog die Füsse an, sie fasste mit den Händen an die Fusssohlen und testete, ob ihre Füsse warm oder kalt waren. Aber sie waren weder warm noch kalt, sie hatten genau die richtige, die normale Temperatur. Trotzdem fühlte sie sich gerade wohl, so mit angezogenen Beinen auf dem Sofa. Es war ihr, als ob sie nachvollziehen könnte, wie jemand sich fühlen würde, der gerade kalt hatte. Und es war ihr, als könnte sie nachvollziehen, wenigstens ansatzweise, wie sich ein Mensch auf der Flucht fühlte.

Dann hatte sie plötzlich den Drang, selber etwas zu malen. Sie suchte die ganze Wohnung nach Papier und Stiften ab, aber sie konnte nichts finden. Kein Papier und keine Schreib- oder Malwerkzeuge. Sie überlegte, wie sie sonst noch ein Bild malen könnte. Sie ging in die Küche, aber auf dem kleinen Tisch war nichts zu sehen. Sie guckte in eine Schublade, wo sie Besteck fand, aber nichts, was sich zum Malen geeignet hätte. Sie öffnete den Kühlschrank: Sie erblickte etwas Käse, Fleisch und Butter. Eine Flasche Milch. Zwei kleine Zucchini. Und auf dem obersten Regal stand ein Schälchen mit blauen Beeren. Verstohlen nahm sie eine davon und steckte sie sich in den Mund.

Und dann kam ihr eine Idee: Wenn sie die blauen Beeren zerdrückte, dann gab das ein blaues Mus. Und mit diesem Mus konnte sie behelfsmässig ein Bild malen. Sie konnte es zumindest versuchen. Jetzt brauchte sie nur noch eine Fläche, die sie bemalen konnte. Sie ging ins Schlafzimmer, und durch den Flur wieder ins Wohnzimmer. Sie betrachtete die Wand gegenüber dem Bücherregal. Sie schob den Tisch beiseite, nahm einige Beeren in die Hand und zerdrückte sie. Sie stellte sich vor die Wand und überlegte. Dann begann sie das Beerenmus auf der Wand zu verteilen. In grossen Strichen malte sie, anfangs noch etwas ungeschickt, dann immer routinierter.

Irgendwann waren die Beeren aufgebraucht. Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete stolz ihr Werk: ein Gummiboot, mitten in grossen Wellen und im Boot Menschen, verhüllt mit Stoffen um sich vor der Sonne zu schützen und vor der Kälte und dem Wind. Die Menschen waren Flüchtlinge, auf der Flucht, aber ihr Ziel war unklar, es gab kein Land in Sicht. Noë war mit ihrem Bild sehr zufrieden. Besser wäre es natürlich, wenn sie richtige Farbe gehabt hätte. Das Blau gefiel ihr zwar und es war auch passend für das Bild, aber mit verschiedenen Farben hätte sie die Situation sicher noch genauer darstellen können.

Sie beschloss, in die Stadt zu gehen und einen Laden zu suchen, der Farben verkaufte. Vielleicht gab es auch Papier oder eine Leinwand. Erst musste sie sich allerdings erst die Hände waschen, denn auch diese waren von dem Beerenmus ganz blau geworden. Es dauerte eine Weile, bis die Farbe ab war. Dann ging Noë los, hinunter auf die Strasse und den immer gleichen Häuserzeilen entlang. Unter dem immer gleichen, blaugrauen Himmel. Hauseingang an Fenster an Hauseingang an Fenster. Noë überlegte: Das einzige aussergewöhnliche, andere Haus, das sie kannte, war das Café Meetingpoint. Das Café und den Hinterhof, in den sie schon ein paar Mal hinunter geblickt hatte, und wo es einen Buchladen und einen Kiosk gab. Ansonsten sahen alle Häuser ganz genau gleich aus. Sie konnte sich auch nicht erinnern, dass sie jemals ein Schild gesehen hatte, das auf ein Geschäft hinwies.

Sie beschloss, aufmerksam durch die Strassen zu gehen, falls doch irgendwo ein Hinweis auf einen Laden auftauchte. Sie blickte nach links und nach rechts, aber alles was sie sehen konnte, waren Hauseingänge und Fenster. Und ehe sie es sich versah, hatten sie ihre Füsse zum Café Meetingpoint getragen. Gerade noch konnte sie vor der Treppe stoppen und blickte sich um: Wie konnte sie denn in den Hinterhof gelangen. Sie erblickte hinter der Treppe eine ebenerdige Türe, die sie bisher nie gesehen hatte. Aber von der Richtung her stimmte es: Da musste sie in den Hof gelangen. Sie trat hinaus und entschied sich erst für den Kiosk.

Die Auslage an Zeitschriften, die sie von der Terrasse her bereits bestaunt hatte, schien von hier unten noch grösser zu sein. Sie warf aber nur einen kurzen Blick darauf: Hefte, Magazine, Zeitungen. Alle sorgfältig gefaltet. Sie trat in das Haus ein, wo ein schmaler Gang zwischen weiteren Zeitschriftenständern auf eine Kasse zuführte. Hinter der Kasse sass eine Frau mit grauen Haaren, die ihr freundlich entgegenblickte. Sie begrüsste Noë und fragte sie, ob sie schon etwas gefunden habe oder ob sie weiterhelfen könne. Noë fragte sie, ob sie Material hätte, mit dem man malen könnte. Die Frau schüttelte bedauernd den Kopf. Dann wies sie aber auf einen Haufen an Kugelschreibern, der auf dem Tresen lag. Das sei das einzige, was irgendwie in Richtung Malen gehe. Die Kugelschreiber gäbe es gratis, normalerweise nähmen sie Leute mit, die Kreuzworträtsel oder Sudokus lösen wollten. Sie hätte sie in vier Farben, allerdings seien die roten gerade ausgegangen.

Noë bedankte, sich, nahm einen blauen, einen grünen und einen schwarzen. Besser als nichts, dachte sie. Wer wusste schon, was der Buchladen zu bieten hatte. Sie grüsste die Frau noch einmal zum Abschied und durchquerte den Hof. Vor der Auslage zum Buchladen blieb sie stehen. Sie überflog die Bücher, die da lagen, fand aber nichts, was sie gerade fesselte. Und so trat sie ein und fand sich in einem Labyrinth von hohen Bücherregalen wieder. Eine Stimme begrüsste sie von weit oben herab. Sie sah sich um und entdeckte auf einer Leiter einen jungen Mann. Sie schaute zu ihm hoch und erklärte ihr Anliegen: Dass sie etwas malen wollte, ihr aber die entsprechende Ausrüstung fehle. Der Mann schüttelte den Kopf: Er hätte nur Bücher. Aber er hätte auch Bücher über Malerei. Sie stehe gerade vor dem Regal.

Noë guckte sich die Buchrücken der Bücher an, vor denen sie gerade stand. „Alte Meister“, „Die Klassiker der Moderne“ „Das Renaissance-Gemälde“. Weiter unten fand Noë auch Titel, die zum Malen anleiteten: „In drei Schritten zum eigenen Van Gogh“, „Skizzieren leicht gemacht“, „Zehn Tipps zu meisterhaften Skizzen“. Sie zögerte. Sie wollte malen, aber eigentlich wollte sie ihren eigenen Gefühlen Ausdruck geben. Sie wollte nicht malen wie Van Gogh oder wie irgendjemand, der von sich selbst behauptete, Meister im Skizzieren zu sein. Sie brauchte Platz und Werkzeuge, um sich selber Ausdruck zu verschaffen. Bis jetzt hatte sie blaues Beerenmus und bunte Kugelschreiber. Da kam ihr aber eine Idee: Wenn sie eine Landkarte fand, dann konnte sie vielleicht deren Rückseite für ein Bild benutzen. Sie fragte den Mann, der immer noch auf der Leiter herumturnte, ob er Landkarten hätte. Er überlegte kurz, sagte dann, dass sie das Sortiment aufgelöst hätten, aber dass vielleicht noch einige Restexemplare übrig seien. Er kletterte herunter und begab sich in einen Raum an der Rückseite des Ladenlokals. Nach einigen Minuten kehrte er triumphierend mit einer gefalteten Karte zurück. Ein alter Stadtplan, nicht mehr zu gebrauchen. Er schenkte ihn Noë und sie verliess glücklich die Buchhandlung.

Als sie wieder im Innenhof stand, erhielt sie eine Nachricht von Luis. Ob sie ins Café Meetingpoint komme, wo sie doch schon in der Nähe sei. Sie blickte zur Terrasse hoch und erkannte Luis, wie er da stand und ihr zuwinkte. Sie winkte zurück und machte sich auf den Weg, hoch ins Café. Oben breitete sie ihre neuen Schätze vor Luis auf. Er aber wusste nicht so recht, was er dazu sagen sollte. Er kannte nur Leute, die Bücher lasen. Keine, die malten. Aber dann meinte er, dass er eigentlich stolz sein könne auf Noë, dass sie jetzt mal etwas ganz anderes machen wollte.

Noë erzählte ihm von ihrem ersten Bild, blaues Beerenmus auf Wohnzimmerwand. Ein Gummiboot mit Flüchtlingen. Luis bezweifelte, dass dieses Mus sich jemals wieder von der Wand entfernen liesse. Aber Noë sagte, das Bild gefalle ihr gut, das dürfe gerne da bleiben. Und wenn die Flüchtlinge irgendwann doch einmal Land finden würden? Sie gingen doch in diese VR, gab Luis zu bedenken. Dann sei es eben eine Erinnerung, sagte Noë etwas ungeduldig. Aber Luis liess nicht locker: Alles sei doch jetzt gut, die Flüchtlinge seien gerettet. Wieso Noë sie nicht einfach in Ruhe liess. Noë sagte, dass die Flüchtlinge ihr Trauma auch nicht einfach vergessen könnten, sobald sie in Sicherheit seien. Und dass sie Schlimmes durchmachen mussten auf ihren Reisen. Und dass sie das auch nicht einfach so vergessen wollte. Luis seufzte. Er wollte nicht, dass Noë sich die ganze Zeit so viele Sorgen mache. Es sei doch alles gut. Sie sei doch wunschlos glücklich.

Noë wurde ungeduldig. Mit Luis, mit der Welt, mit sich selber. Sie griff sich mit der Hand an die linke Schläfe. Sie erinnerte sich vage daran, dass es dort mal gezuckt hatte und dass sie dann plötzlich an einem anderen Ort gewesen war. Und sie wünschte sich weg, ganz weit weg. In ihr Wohnzimmer, auf ihr Sofa. Und sie spürte, wie ihr linkes Auge zu zucken anfing. Sie nahm die Karte und die Kugelschreiber in die rechte Hand, umklammerte sie ganz fest und dann schloss die Augen und als sie sie wieder zaghaft öffnete, sass sie wirklich auf ihrem Sofa, in ihrer Wohnung. Sie blickte auf ihre rechte Hand und da war noch immer ihre Landkarte und die drei bunten Kugelschreiber.

Sie wusste nicht recht, ob sie glücklich oder traurig sein sollte. Sie fühlte sich traurig, weil Luis so weit von ihr weg war. Weil er sie nicht verstand. Weil sie sich Unterstützung von ihm gewünscht hätte. Und sie war glücklich, weil sie ihrem Schritt zum Malen ein Stück näher gekommen war. Sie breitete die Karte auf dem Tisch aus, Stadtplan nach unten und begann mit ihren Kugelschreibern zu zeichnen. Eine Insel wurde es, eine Insel mit Sandstrand, Wasserfall und Bäumen. Und lustige Vögel sassen auf den Ästen und eine Schildkröte schwamm im Wasser. Sonst war die Insel ganz einsam. Und am Ende zeichnete Noë sich selber, wie sie alleine am Stand stand, ganz alleine in einem wunderschönen Paradies.

Als sie fertig war, hängt sie die Landkarte mit ihrem Bild ans Bücherregal. Die blauen Beerenmus-Flüchtlinge schwammen jetzt genau auf die Insel zu. Zu ihr, zu Noë. Und sie wollte sie begrüssen, mit blauen Beeren und mit frischem Wasser und mit einem schönen Schattenplatz.

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