utopia winter, ©saschademarmels

utopia – winterfrüchte

Seit Tagen hatte die Tüte dagelegen. Fast könnte man meinen, achtlos. Aber eigentlich war in dieser neuen Welt der Anblick einer Tüte schon ein Ereignis. Sie war aus durchsichtigem Plastik, sah irgendwie altmodisch aus. Kam aus Südamerika. Sie lag da, knisterte wundervoll, wenn man sie berührte. Leicht klang das Knistern. Geheimnisvoll. Die Oberfläche war ganz glatt. Und obwohl sie durch den Plastik hindurch sehen konnte, schien zwischen dieser glatten Plastikoberfläche und dem Inhalt kein Zusammenhang zu bestehen.

Sie wusste ganz genau, was sich in der Tüte befand. Sie hatte eine vage Erinnerung aus der Kindheit, wie es duften würde, sobald sie den Plastik öffnete. Sie wusste, wie die gerösteten Erdnüsse sich in den Fingern anfühlen würden und wonach sie schmecken würden, sobald sie die geschälte Nuss in den Mund nam. Sie wusste es und sie verzehrte sich danach, diese Eindrücke endlich wirklich zu erleben, sich nicht mehr bloss daran zu erinnern. Aber sie freute sich auch unendlich auf diesen Moment und sie wollte diese Freude noch ein Weilchen länger hinhalten.

Aber dann überkam sie einfach eine unendliche Neugierde, ein Verlangen danach, zu fühlen, zu riechen, zu schmecken, ob ihre Erinnerungen wirklich noch stimmten. Sie riss die Packung auf und sofort schlug ihr der Geruch entgegen. Ihre Erinnerung hatte sie nicht getäuscht. Es roch herb, leicht staubig. Aber irgendwie auch süsslich. Sie atmete tief ein. Es roch nach geröstet. Sie beugte sich über die Tüte und atmete noch einmal tief ein. Jetzt schien ihr der Geruch fast etwas metallen.

Und während sie sich noch den Gerüchen hingab, überkam sie eine ungeheure Lust, einfach in eine solche Nuss hinein zu beissen, ihre Zähne in die weiche Schale zu bohren. Es knackte leicht, gleichzeitig gab es einen pfeifenden, schleifenden Ton, als ihre Zähne sich zur Luft in der Nuss durchsäbelte. Die Schale splitterte ganz leicht ab und sie fühlte die kleinen Stücke im Mund. Faserig fühlte sich das an. Und es schmeckte irgendwie nach nichts. Sie nahm die Nuss aus dem Mund.

Jetzt hielt sie sie in der Hand. Sie erspürte die poröse Oberfläche. Irgendwie fühlte sich das warm an. Nicht unbedingt lebendig, aber auch nicht tot. Irgendwie organisch. Sie fixierte die Spitze am einen Ende der Erdnuss mit dem Zeigefinger und drückte auf die gebogene Rundung darüber mit dem Daumen. Es knackte, als die Schale zerbarst und die Luft aus dem Innern der Nuss entwich. Sie musste die zweite Hand zur Hilfe nehmen, um die Nuss nun ganz aufzubrechen. Es knacke noch einmal, dann knirschte es, als sie die beiden Hälften mit einem Ruck voneinander trennte. Die Kerne fielen zitternd auf den Tisch. Es war ein Geräusch, dass von den Ausdehnungen einem Poltern nahe kam, aber natürlich viel, viel leiser. Die zwei Nüsse zerfielen sofort in ihre Hälften und die rote Schale löste sich mit einem papiernen Geräusch von ihnen. Sie nahm die knirschenden Blättchen in ihre Finger. Fast klang es, als wenn jemand durch Schnee geht.

Dann nahm sie die Nuss in den Mund und kaute sie. Es knirschte weiter, aber irgend wie weich. Und so fühlte es sich auch an. Die Nuss schien sich mehr zwischen ihren Zähnen zu verformen als auseinander zu splittern. Sie war nur im ersten Moment knusprig, dann sofort eher weich und bald sogar irgendwie fasrig. Und gleichzeitig mit der äusserlichen Verformung gab sie auch ihren Geschmack preis. Dieser veränderte sich eben so schnell: Erst war die Nuss süsslich, dann kam der typische Nussgeschmack, ganz genau so, wie sie sich erinnert hatte. Er war warm, erdig irgendwie. Aber auch frisch und würzig. Und dann wurde er wieder süsslicher. Bis da nichts mehr war, nur noch das fasrige etwas, zwischen ihren Zähnen, an ihrer Zunge.

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