im gedärm des gebäudes

[Dieser Text stammt aus den ersten Ideen zum Roman „Utopia“. Das Konzept des Romans hat sich dann aber verändert, so dass dieser Text nicht mehr hinein passte.]

Eigentlich wäre es nicht nötig gewesen, das Gebäude jemals zu verlassen. Es wäre nicht einmal nötig gewesen, die Wohnung zu verlassen. Trotzdem lief sie durch die Flure. Auf den ersten Blick wirkte alles recht edel, dicke, dunkelrote Teppiche dämpften die Schritte. Nostalgische LED-Lampen beleuchteten die marmornen Steinwände. Die Lifttüren und die Geländer an den Treppen sahen aus wie edles Holz. Wozu, dachte sie, wozu diesen Aufwand, wenn doch nie jemand sich hier aufhielt. Und wer hier wohl putzte? Ob es lebendige Menschen gab, die sich in den Fluren bewegten, ausser sie selbst gerade jetzt. Der Teppich roch seltsam. Neu. Vielleicht, sie erinnerte sich, dass ihre Eltern früher manchmal gesagt hatten, etwas rieche „neu“. Beispielsweise das neue Auto. Es war eher negativ gemeint. Es war ein negativer Geruch, etwas lebloses, ungebrauchtes. Sie hatte einen solchen Geruch sonst noch nie bewusst wahrgenommen. Wenn sie per Internet etwas bestellte, dann kam es immer bereits mit ausgewählten Düften versehen. Auch die künstlichen Blumen konnte man mit Düften versehen lassen. Alles künstlich. Sie fragte sich, ob es wohl möglich wäre, sich irgendwoher echte, natürliche, lebendige Blumen kommen zu lassen.

Sie lief ziellos durch die Flure. Sie war sich selbst nicht sicher, was sie eigentlich wollte. Sie wollte einfach weg. Sie wollte ein Zeichen setzen, für sich selber. Dass es nicht ausreichte, sich auf einer gemeinschaftlichen Dachterrasse zu treffen und dann trotzdem mittels technischer Geräte miteinander zu kommunizieren. Es war ja schon ausserordentlich, dass sich Menschen überhaupt irgendwo physisch in einer Gruppe zusammenfanden. Dass man nicht mal ansprechen konnte, das man doch auch miteinander reden könnte, etwas miteinander tun könnte, miteinander sogar etwas unternehmen könnte. Die hielten sie doch alle für verrückt. Und wenn schon, dann wollte sie wirklich etwas verrücktes tun. Aber was? Sie war sich nicht einmal sicher, ob das Gebäude überhaupt einen Ausgang hatte, der auf die Strasse führte. Und mit einem Wagen aus der Garage wegfahren, das wollte sie ja nicht.

So lief sie einfach ziellos durch das Flurlabyrinth. Sie schaute ich die Türen an. Türen, die vielleicht während Jahren nicht mehr geöffnet worden waren. Türen, hinter denen irgendwelche Soziozombies lebten oder dahinvegetierten. Wer wusste das schon. Wobei: Sie hatte noch nie davon gehört, dass Tote in den Wohnungen liegen. Ihre Eltern hatten früher davon erzählt, dass das zunehmend ein Problem geworden sei in der Stadt: Dass jemand in seiner Wohnung starb und wochenlang nicht entdeckt worden sei. Keine Nachbarn hätten bemerkt, dass die Person schon lange nicht mehr zu sehen oder zu hören war. Und erst als sich der Geruch nach Tod seinen Weg aus der Wohnung heraus gebahnt hatte, kümmert sich dann jeweils jemand darum. Und alle Leute taten geschockt.

Sie staunte ein bisschen: Die Flure waren immer gerade, senkrecht zueinander angeordnet. Ob alle Wohnungen über Fenster verfügten? Es war ihr klar, dass nicht alle eine Dachterrasse haben konnten. Aber Fenster? Vielleicht auch das nicht. Der Minergiestandard hatte damals den Durchbruch gebracht: Nicht nur, dass man Fenster nicht mehr öffnen sollte, um Energie zu sparen. Bald wurde klar, dass man gar keine Fenster mehr brauchte und so noch etwas energieeffizienter bauen konnte. Denn durch das Glas war mehr Wärme nach aussen entwichen als durch die Steinmauern. Und die digitale Visualisierung machte schnelle Fortschritte: Bald konnte man sich Bildschirme wandweise in die Wohnung stellen. Die wenige Abwärme reichte im Winter nicht mal zum Heizen aus. Aber jetzt, mit der Klimaerwärmung wurde alles besser.

Sie beschloss, bei jeder Weggabelung nur noch nach rechts zu gehen und wenn eine Treppe käme nach unten zu steigen. Sie lief erst noch weitere vier Minuten, bevor es soweit war. Unten angekommen, wählte sie neu immer nur den linken Flur. Nach weiteren drei Minuten kam sie zu einer neuen Treppe. Wieder stieg sie nach unten. Nun beschloss sie, an jeder Kreuzung die Richtung zu ändern, einmal links, einmal rechts. Dieses Mal dauerte es dreizehn Minuten, bis sie wieder zu einer Treppe kam. Sie versuchte sich zu überlegen, ob es dafür einen mathematischen Grund gab, der durch ihr Auswahlschema begründet war. In ihrer Wohnung hätte sie sofort den Computer gezückt. Die Verlockung war gross, herauszufinden, ob das Netz bis hier in die Tiefe der Gänge reichte. Sie guckte kurz auf das mobile Gerät. Ja, es hatte Verbindung.

Aber das mathematische Problem schien ihr nicht mehr so dringend, denn als sie unten an der Treppe angekommen war, fiel ihr auf, dass das Gebäude sich hier verändert hatte. Der Teppich war immer noch dick, weich und roch neu. Aber er war dunkelgrün. Und am Rand des Teppichs sah sie, dass der Fussboden darunter nicht aus Marmorstein war, sondern aus dunklem Holz. Sie wollte es berühren. Aber sie traute sich nicht: Wer weiss, wenn jetzt plötzlich eine Türe aufgehen würde… Aber war es denn verboten, sich in den Fluren aufzuhalten? Sie konnte sich nicht an eine entsprechende Regelung erinnern. Trotzdem hatte sie plötzlich ein beklommenes Gefühl. Ein schlechtes Gewissen. Wie wenn sie bei etwas Unschicklichem ertappt worden wäre.
Sie beschloss, das Experiment für den Moment hier abzubrechen und machte sich auf den Rückweg.

Erst war sie orientierungslos, aber dann erinnerte sie sich an den Tag, als sie hier eingezogen war – denn damals war sie ja schon durch dieses Treppenhaus und durch die Flure gekommen. Das Sicherheitssystem des Gebäudes verfügte über Sammelrutschen im Fall einer Notevakuierung. Die Hausführerin hatte ihr damals gesagt, sie könne sich allerdings keine Situation vorstellen, in welcher es besser wäre, das Haus zu verlassen. Das Haus unterläge aber noch einer alten Vorschriftenregelung, da sein Gerüst noch aus einer älteren Zeit stamme und man darum hatte ältere Bauvorschriften berücksichtigen müssen. Darum also die Sammelstellen mit den Notrutschen. Und der Weg zu den Notrutschen sei mit Pfeilen markiert, die über einen Schalter aktiviert werden können. Sie ging den Flur entlang und fand nach wenigen Schritten einen blinkenden Schalter an der Wand. Als sie ihre Hand in dessen Nähe bewegte, leuchteten an der Fussleiste grüne Pfeile auf. Sie folgte Ihnen und binnen weniger Minuten befand Sie sich in einem der Haupttreppenhäuser mit den etwas breiteren Treppen und mit Liften. Sie holte sich einen Lift und wählte das Dachgeschoss. Als sie ausstieg, erkannte sie den Wegweiser, den sie sich damals als Neuankömmling eingeprägt hatte – völlig unnötigerweise, wie sie bald darauf erkannt hatte, da sie die Wohnung kaum noch verliess und wenn, dann nur um zur nächsten Gemeinschaftsterrasse zu kommen, die sehr nahe ihrer Wohnung war.

Der Wegweiser liess sie erkennen, dass sie gar nicht weit von ihrer eigenen Wohnung entfernt war und sie vermutete, dass sie in den unteren Stockwerken in weiten Kreisen gegangen war. Sie kehrte zu ihrer Wohnung zurück, etwas erleichtert, dass niemand sie gesehen hatte, aber auch etwas enttäusch: So abenteuerlich war ihn Abenteuer jetzt letztendlich doch nicht gewesen.

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