utopia – 37: tee mit dem märzhas

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë hat sich ganz fest in ihre Kuscheldecke eingewickelt und ist dann sehr schnell eingeschlafen, überwältigt von all den neuen Eindrücken, die sie draussen gewonnen hat. Jetzt wacht sie auf, erleichtert, dass sie wieder zurück in ihren eigenen vier Wänden ist und gleichzeitig neugierig und erwartungsvoll.

Sie möchte Mat erzählen, was sie draussen alles gesehen hat. Dass sie die Flüchtlinge beobachtet hat. Was sie alles erfahren hat. Und sie möchte in den Rosengarten. Sie möchte den süssen Duft der Rosen einatmen, den Vögeln lauschen. Sich von der Sonne wärmen lassen. Der Rosengarten ist wie ein sicherer Hafen, sie sehnt sich nach ihm. Nach der Ruhe, die er ausstrahlt.

Dann erinnert sie sich, dass sie gestern den Rosengarten nicht mehr hat wiederfinden können. Hat sie das alles vielleicht nur geträumt? Sie kann versuchen, sich in den Garten zu zwinkern. Schnell schliesst sie die Augen, fasst sich mit der linken Hand an die Schläfe. Aber nichts passiert. Sie ist nicht überrascht. Als sie versucht hat, sich vom Treppenhaus in ihr Zimmer zu zwinkern, hat das auch nicht geklappt. Sie überlegt: Wenn die Stadt und ihre Wohnung und das Café Meetingpoint eine virtuelle Realität war, dann ist auch klar, dass es hier in der realen Realität nicht funktionieren kann. Hier muss sie den Weg wirklich selber gehen.

Also steht sie auf, bindet sich die Schuhe zu und macht sich auf den Weg. Durch den weinroten Flur zum roten Flur, hinunter in den blauen weiter durch den gelben. Je weiter sie geht, desto unbekannter kommen ihr die Flure vor. Es ist ihr, als gehe sie überall zum ersten Mal. Sie versucht sich zu erinnern, wo sie das erste Mal lang gegangen ist, welche Farben und Bodenbeläge ihr bekannt vorkommen. Aber sie kann sich an nichts mehr erinnern. Sie geht und geht und hofft, dass sie plötzlich einfach wieder vor dem gusseisernen Tor stehen wird.

Irgendwann muss sie sich etwas ausruhen, setzt sich auf eine Treppenstufe. Als sie zu Boden blickt, sieht sie dort einen kleinen Haufen voller Sand. Sie erinnert sich, dass sie irgendwann einmal auf der Suche nach dem Rosengarten durch einen Flur mit Sand gegangen ist. Dass sie immer eingesunken ist und am Schluss die Schuhe ausleeren musste. Zögernd blickt sie um sich, kann aber keine Abzweigung in einen Sandflur machen. Beherzt steigt sie die Treppe hoch und steht plötzlich vor dem Tor zum Rosengarten. Schnell öffnet sie es und tritt ein, fast wie von einer unsichtbaren Angst getrieben, der Garten könnte sich vor ihr wieder in Luft auflösen.

Aber der Rosengarten löst sich nicht in Luft auf. Im Gegenteil, er strahlt Noë an und begrüsst sie mit dem süssen Rosenduft und dem Vogelgezwitscher und mit den tanzenden Sonnenstrahlen. Noë atmet auf und dann tief ein. Sie spaziert auf den Kieswegen durch die Rosenbüsche, den Wiesen entlang. Sie lässt sich einfach gemütlich treiben. Sie sieht Kinder, die Verstecken spielen. Sie sieht einen Mann mit einem Buch auf einer Bank sitzen. Sie sieht eine Frau mit einer Staffelei vor einem besonders hübschen Rosenstrauch.

Als sie zur Bank kommt, wo sie das letzte Mal Mat getroffen hat, setzt sie sich und blinzelt vergnügt ins Sonnenlicht. Sie schliesst die Augen, und die Schatten tanzen immer noch weiter unter ihren Augendeckeln. Sie spürt die Kraft der Sonne auf ihrem Gesicht. Und dann riecht sie etwas, süss und herb und als sie die Augen aufschlägt, steht der Mann mit dem Holundersirup vor ihr. Sie lacht dankbar und nimmt ihm das Glas ab, das er ihr entgegenstreckt. Er zwinkert ihr lustig zu und geht weiter.

Als sie den Weg entlang blickt, sieht sie Mat, wie er auf sie zu kommt und winkt. Sie winkt zurück. Sie ist glücklich und ruhig und fühlt sich ganz geerdet. Mat begrüsst sie und fragt sofort, wie es ihr geht und was sie so gemacht hat seit ihrer letzten Begegnung. Und Noë erzählt ihm von ihrem Ausflug zum Flüchtlingslager und davon, was sie da alles gesehen, gehört und gerochen hat.

„Eine junge Frau hat ein Gedicht geschrieben über das Meer. Es fehlt ihr hier. Ich habe vorher nicht so bewusst darüber nachgedacht, dass das Meer auch etwas Gutes haben könnte. Das es schön ist. Ich habe immer nur daran gedacht, dass Menschen darin ertrinken. Auch auf meinem Gemälde ertrinkt ein Flüchtling fast, als eine Welle das Boot erfasst. Aber das war mehr, weil ich nicht so gut malen kann.“

Mat nickt nachdenklich. „Ja, weisst du, die meisten Dinge haben eine positive und eine negative Seite. Es gibt fast nichts, was nur gut ist und es gibt auch fast nichts, was nur schlecht ist. Je schöner etwas ist, desto schrecklicher kann es auch sein.“ Noë sieht ihn nachdenklich an. Sie denkt daran, wie sie sich hierher zwinkern konnte, in das Gebäude mit den vielen Fluren. Und wie schön es ist, dass sie nun hier ist und Mat kennen gelernt hat. Aber dafür hat sie Luis verloren. Denn Luis kann sich nicht hierher zwinkern. Sie weiss nicht, wo er ist, ob es ihn überhaupt noch gibt. Und trotzdem ist sie froh, dass sie hier ist. Sie denkt auch an die Zeitung mit dem goldenen Schimmer. Dass sie immer sehr neugierig gelesen hat, was da stand, aber dass ihr das auch irgendwie Angst gemacht hat und dass es viele Fragen in ihr aufgeworfen hat.

Dann erzählt sie Mat weiter: „Die Flüchtlinge haben gedacht, sie gehen in eine bessere Welt. Aber was heisst besser? Besser, als dass sie es zum Schluss gehabt haben, im Krieg oder in der Dürre? Oder besser als zuvor, als sie noch eigene Häuser und Ziegen hatten? Es geht ihnen nicht gut, weisst du?“ Mat nickt wieder. „Siehst du, es ist genau so… Was heisst besser? Woran misst man besser? Oder schlechter? Woran misst man gut? Du kannst es immer nur an deinem eigenen Massstab messen, nicht an dem anderer.“ Er versinkt in nachdenklichem Schweigen.

„Wenn du Durst hast, wird dieser Durst weniger, wenn du weisst, dass ein anderer nicht nur Durst, sondern auch noch Hunger hat?“ Noë denkt nach, schüttelt dann den Kopf. Sie überlegt weiter und sagt dann nach einer Weile: „Vielleicht würde ich diesem anderen aber Wasser geben, wenn ich welches hätte. Damit er nicht Hunger UND Durst leiden muss.“ Dann erinnert sie sich an das, was sie über Jared Diamond gelesen hat. Die Frage, die ihr damals einen Schreck eingejagt hat. Sie versucht sich an die Frage zu erinnern und stellt sie nun Mat: „Was passiert, wenn die armen Menschen merken, dass es nicht genug Ressourcen gibt, damit auch sie reich werden können, wenn sie sich nur genug anstrengen?“

Mat nickt wieder. „Du kennst also die Überlegungen von Diamond?“ Und dann fügte er hinzu: „Was denkst du, Noë, was dann passieren wird?“ Die beiden sitzen eine Weile schweigend auf der Bank. Zögerlich räuspert sich Noë nach einer Weile, sie weiss nicht, was passieren wird. Aber sie hat eine Vermutung: „Sie werden kommen und sie werden den Reichen die Sachen wegzunehmen versuchen. Es wird Krieg geben.“ Mat nickt wieder. „Ja, so wird es wahrscheinlich sein. Ausser…“ Dann hält er unvermittelt inne und sagt nichts mehr.

„Denkst du, es nützt etwas, wenn ich weniger Ressourcen verbrauche? Ich meine, wenn ich weniger esse, zum Beispiel?“ Mat lachte auf. „Wie viel isst du denn so?“, fragt er etwas spöttisch. Und Noë schämt sich: Sie isst eigentlich nie etwas. Sie denkt an die Erdnüsse. Und daran, dass sie gestern Hunger verspürt hat. Aber bis sie wieder in ihrem Zimmer war, war das Gefühl verflogen, sie hat gar nicht mehr daran gedacht, dass sie sich etwas zu Essen besorgen könnte. Sie fragt sich, ob jemand Essen in ihre Matratze legen muss, damit sie immer satt und zufrieden ist.

Da wechselt Mat das Thema und erzählt ihr, dass er im Garten gearbeitet hat. Das Gemüse sei sehr anfällig, die klimatischen Bedingungen setzten ihm zu. Noë staunt: Sie findet das Klima sehr angenehm, nicht zu warm und nicht zu kalt. Aber sie ist auch kein Gemüse. Was weiss sie denn schon von den klimatischen Bedingungen. Sie isst ja nicht einmal Gemüse. Und sie freut sich für Mat und für das Gemüse, dass er ihm gut schaut und dass es wachsen kann.

Noë kriegt richtig Lust, mal so ein Gemüse zu essen. Sie gesteht Mat, dass sie sich nicht erinnern kann, jemals ein Gemüse gegessen zu haben. Was für ein Gemüse sie denn gerne probieren würde, fragt er sie. Eine Gurke, das fällt ihr jetzt ganz plötzlich ein, sie würde gerne mal in eine saftige Salatgurke beissen.

„Das trifft sich gut!“ strahlt Mat sie an. Er hat einen ganzen Korb mit Gemüse mitgebracht. Er stellt ihn auf die Bank, direkt vor Noë. Und ihre Augen werden gross und grösser. Ein frischer, grüner Salatkopf, knallrote, fast runde Tomaten, ein sonnengelber Maiskolben, ein weisser Fenchel mit feinem, hellgrünem Kraut, ein fast blau-grüner Broccoli, orange Karotten mit frischem grünem Gemüse dran. Und quer über allem liegt eine dunkelgrüne, saftige Gurke. Noë strahlt jetzt auch, streckt zögerlich ihre Hand aus und blickt Mat an. Der nickt und sie ergreift die Gurke und bohrt ihre Zähne mitten hinein. Es schmatzt und Saft rinnt ihr links und rechts den Mund hinunter.

Wie das schmeckt… Unbeschreiblich gut. Saftig, frisch, nach Gemüse. Es schmeckt grün. Es schmeckt leicht und wässerig, aber trotzdem so voller Geschmack nach Erde und nach Sonne und nach Gesund. So etwas Gutes hat Noë noch nie gegessen. Ihr kommen fast die Tränen. Später kommt ein bitterer Geschmack dazu, nach Kerne und nach Sand. Sie geniesst es. Und sie spürt ihre Muskeln im Gesicht, besonders am hinteren Ende des Mundes, wie sie beansprucht werden vom Kauen und wie das ungewohnt ist für sie. Und wenn sie einen Bissen hinunterschluckt, spürt sie, wie die Gurke ihre Speiseröhre hinunter wandert und im Bauch ankommt.

Mat beobachtet sie zufrieden und leicht abwesend in seinen Gedanken. Erst als sie die ganze Gurke aufgegessen hat richtet er seine nächste Frage an sie: Was sie denn so von der Klimaerwärmung wisse? Das erste, was Noë einfällt, ist, dass es wärmer wird. Und dass das aber auch normal sein könnte. Oder von Menschen gemacht. Und dass sie nichts spürt von der Klimaerwärmung. Aber dann überlegt sie und gesteht, dass sie gestern im Gebäude plötzlich sehr warm hatte. Je weiter sie nach unten gegangen ist, desto wärmer ist es geworden.

Mat erzählt ihr, dass die Klimaerwärmung etwas sehr kompliziertes ist. Dass es nicht schlagartig wärmer wird, sondern langsam aber stetig. Und dass eine kleine Veränderung von wenigen Graden bereits viel auslösen kann in der Natur. Dass manche Tiere völlig verloren sind, weil sie nicht mehr auf ihre Wanderungen gehen, vom Norden in den Süden oder vom Süden in den Norden. Und dass sich die Pflanzen verändern und dann gewisse Tiere nicht mehr ihr normales Futter finden.

Noë staunt. Sie fühlt sich gut, wie sie da so mit Mat zusammensitzt und mit ihm alles besprechen kann. Und wie sie ihm Fragen stellen kann und er Antworten weiss. Und sie muss sich auch nicht schämen, wenn sie etwas nicht weiss oder keine Ahnung von bestimmten Dingen hat. Und so gesteht sie Mat, dass sie noch nie ein Tier aus der Nähe gesehen hat. Und dass sie gerne mal ein Tier streicheln würde, ein kleines, niedliches Tier. Mat nickt, Tiere sind selten geworden in der Welt. Dann erzählt er ihr, dass es im Rosengarten Tiere gibt. Die Vögel, die man zwitschert hört, aber auch Tiere, die sich vielleicht streicheln lassen. Beispielsweise Hasen.

Er weist mit dem Kinn in Richtung eines Busches und sagt nickend, dass dahinter bestimmt ein Hasenbau zu finden sei. Vorsichtig gehen sie auf den Busch zu, Schritt für Schritt, ganz langsam und leise um die Hasen nicht zu vertreiben. Und tatsächlich, da sitzen drei weisse Kaninchen im Gras, direkt hinter dem Busch. Mat streckt eine Karotte aus und eines der Kaninchen kommt zögerlich näher. Es streckt seine Nase schnuppernd in die Luft und der Karotte entgegen. Es nähert sich immer mehr, bis es die Karotte mit der Nase anstupsen kann. Darauf bohrt es seine Zähne hinein, wie kurz vorher Noë ihre in die Gurke. Während das Kaninchen an der Karotte nagt, spricht Mat leise auf es ein und nähert vorsichtig seine Hand. Er berührt das zierliche Tier fein am Kopf. Es zuckt zurück und zittert, aber Mat spricht weiter leise mit ihm und das Kaninchen beginnt wieder an der Karotte zu nagen.

Mat nickt Noë wieder zu und nun nähert auch sie langsam ihre Hand und beginnt das Kaninchen am Kopf zu streicheln. Weich fühlt sich das an, unendlich weich. Und fein. Ganz fein. Und irgendwie kühl. Und etwas haarig. Das Tierchen streckt sein Köpfchen hervor und stupst nun Noës Hand und sie streichelt das Tier und es bleibt stehen und hört zu kauen auf und alle drei sind völlig versunken in den Moment. Irgendwann hüpft das Kaninchen dann aber doch wieder weg und Noë merkt, wie müde sie ist und dass sie sich kaum mehr so kauernd auf den Beinen halten kann. Sie richtet sich auf und streckt sich wohlig.

Mat schaut sie wohlwollend an. Dann fragt er sie, worauf sie jetzt Lust hat und Noë, die schon zuvor einmal kurz daran gedacht hatte, gesteht Mat, dass sie gerne etwas malen würde. Mat lacht, darauf habe er auch Lust. Er habe darum extra Farben und Papier mitgebracht. Er führt Noë um eine Rosenhecke herum. Dahinter steht eine Staffelei mitten auf der Wiese und daneben auf einem kleinen Tisch leuchtet eine Palette in allen Farben.

Noë denkt an den halbtoten Flüchtling im Boot. Sie möchte ihm ein neues Zuhause geben. Und mit Pinsel und Farbe, denkt sie sich, wird das sicher auch besser gehen als mit dem Beerenmuss und den Kugelschreibern. Beherzt taucht sie den Pinsel in die grüne Farbe und beginnt damit, einen wunderbaren Garten zu malen, mit Büschen und Rosenranken und mit Wiesen. Und sie malt einen weissen Hasen und einen Korb voller lustigem, buntem Gemüse.

Mat stellt sich hinter sie und begutachtet ihr Werk. Er nickt immer wieder und murmelt lobende Worte. Den Flüchtling schliesslich setzt sie in einen bequemen Liegestuhl und sie drückt ihm ein Glas Holundersirup in die Hand. Doch dann sagt Mat plötzlich sehr bestimmt, dass er jetzt gehen müsse und bevor Noë fragen kann, ob sie noch etwas im Rosengarten bleiben darf, sagt er, dass es auch für sie Zeit wird zu gehen. Er begleitet sie aus dem Garten hinaus zum Tor und dieses schliesst sich hinter ihr und es bleibt auch verschlossen. Der Garten liegt im Dunkeln.

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