utopia – 36: wenn das meer gefährlich rauscht

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë fühlt sich ausgeruht und wieder bei Kräften. Sie denkt über ihre Begegnung mit Mat nach. Er kommt ihr vertraut vor. Aber noch immer kann sie sich nicht erinnern, ihn schon einmal getroffen zu haben. Dann denkt sie an den Rosengarten, seine friedliche Ruhe, die er in ihr ausgelöst hat.

Sie möchte wieder los, wieder in den Rosengarten. Sie möchte die Rosen riechen, den Vögeln zuhören bei ihrem Gezwitscher. Sie möchte Holundersirup trinken. Es fällt ihr ein, wie nahe der Rosengarten doch sein muss, da der Rückweg zu ihrem Zimmer so kurz war. Und sie merkt, wie ihr Herz schneller klopft aus Vorfreude. Also springt sie aus dem Bett, schlüpft in ihre Schuhe und öffnet die Türe. Der Flur draussen liegt ruhig und weinrot da.

Sie erinnert sich, dass sie aus der anderen Richtung gekommen war, nicht von dort, wo die Terrasse liegt. Also wendet sie sich nach rechts und nach einiger Zeit trifft sie auf einen Flur in oranger Farbe. Sie guckt nach links und nach rechts, weiss aber nicht mehr, aus welcher Richtung sie gekommen ist. Also wendet sie sich erst nach links und geht eine Weile. Der Flur mündet in einen weiteren, wiesengrünen Flur. Der Teppich am Boden hat lange, wiesenartige Fäden und ist ganz weich. Noë findet es hübsch hier, kann sich aber nicht erinnern, gestern auf diesem sehr speziellen Teppich gegangen zu sein. Also dreht sie sich um und geht in die andere Richtung den orangen Wänden entlang. Nach einiger Zeit endet der Flur am unteren Ende einer Treppe. Noë stutzt: Sie ist sich ganz sicher, dass sie am Abend zuvor auf dem Weg vom Rosengarten hierher nicht über eine Treppe zu ihrem Zimmer gekommen ist. Weder rauf noch runter.

Vielleicht hat sie eine Abzweigung verpasst? Sie geht zurück zu ihrem Zimmer und dann wieder den Flur entlang, aber da ist keine weitere Gabelung. Also geht sie zurück zum Wiesen-Flur. Sie wendet sich erst nach rechts, aber auch da endet der Flur an einer Treppe. Darum dreht sie wieder und geht nach links. Sie kommt in einen himmelblauen Flur mit grauen Steinplatten am Boden. Sie läuft ihn entlang, vielleicht war sie einfach so müde, dass sie die Farben und die Beschaffenheit der Flure nicht mehr so richtig mitgekriegt hat? Der himmelblaue Flur führt sie zu einem sandfarbenen Flur, dessen Boden auch mit Sand angefüllt ist. Bei jedem Schritt sinkt sie ein und sie kommt nur noch sehr langsam vorwärts.

Und schliesslich landet sie wieder auf einem Treppenabsatz. Die Treppe vor ihr führt nur nach unten. Sie steigt die Stufen hinunter und muss sich dann erst einmal setzen und ihre Schuhe ausziehen. Sie schüttelt sie aus, der Sand sammelt sich am unteren Ende der Treppe. Bevor sie sich weiter aufmacht durch den Irrgarten der Flure, atmet sie tief durch. Wo nur ist der Rosengarten?

Der Flur, durch den sie jetzt spaziert, ist blaugrün. Der Boden besteht aus grünem Marmor. Immer noch reiht sich Tür an Tür und dazwischen befinden sich in regelmässigen Abständen Lampen, welche den Flur in ein mattest Licht tauchen. Auch am Ende dieses Flures befindet sich wieder eine Treppe, sie führt nach oben wie auch nach unten. Da Noë in der Zwischenzeit die Hoffnung aufgegeben hat, den Rosengarten einfach wieder zu finden, entschliesst sie sich, weiter nach unten zu gehen: Vielleicht ist dort ja irgendwo der Ausgang aus dem Gebäude. Sie kann nach draussen gehen, die Flüchtlinge besuchen.

Also steigt sie nach unten, geht weitere Flure in verschiedenen Farben entlang und wann immer sie an eine Treppe kommt, geht sie weiter nach unten. Ihr wird warm und wärmer. Zuerst denkt sie, dass sie zu schnell geht und darum ins Schwitzen kommt. Sie geht darum langsamer, aber es wird nicht kühler. Je weiter sie hinuntersteigt, desto wärmer wird es. Die Luft ist stickig und fühlt sich klebrig an. Noë erinnert sich, dass sie dies schon einmal auf ihren Wanderungen durch das Gebäude festgestellt hat. Sie denkt an die Klimaerwärmung und daran, dass die Hitze doch steigen müsste. Ist sie vielleicht in einer verkehrten Welt, wo die Hitze fällt? Oder ist das alles eine Täuschung. Vielleicht wegen dem Dichtestress. Soweit war sie doch schon einmal?

Erschöpft setzt sie sich auf einen Treppenabsatz um etwas zu verschnaufen. Schweisstropfen laufen ihr das Gesicht und den Hals hinunter. Sie hat das Gefühl, diese Hitze nicht mehr länger zu ertragen. Darum geht sie die Treppe wieder hoch und die nächste und die nächste. Und wirklich, es wird wieder kühler. Also geht sie weiter die Flure entlang und steigt, wenn immer möglich, nach oben. Jetzt schwitzt sie wirklich wegen der körperlichen Anstrengung. Aber die Luft um sie herum wird kühler und wieder angenehm.

Schliesslich geht sie einen Flur aus grauem Marmor entlang. Der Boden hier scheint sandig zu sein, aber nicht wie der Sandflur, sondern mehr, wie wenn jemand Dreck von draussen reingebracht hätte. Sie folgt den Spuren und kommt zu einer weiteren Treppe nach oben und schliesslich – zu einer grossen Glastüre. Noë geht entschlossen darauf zu, muss ihren ganzen Körper einsetzen um die Türe aufzustossen. Jetzt steht sie im Freien.

Sie atmet tief durch. Die Luft riecht nicht speziell frisch. Sie blickt zum Himmel, der graublau über ihr hängt. Ein bisschen enttäuscht ist sie. Aber dann kann das Wetter ja nicht immer herrlich sein. Es macht halt, was es will. Und heute will es gräulich sein. Das kann ihre Unternehmungslust aber nicht bremsen. Sie blickt sich um. Sie steht auf einem Gehsteig, schwarz, mit schönen Randsteinen. Daneben eine Strasse und weiter weg einige Autos. Hinter ihr ein Platz und ein kleines viereckiges Gebäude, gerade so gross wie die schwere Glastüre und die Treppe, über welche sie ins Freie gekommen ist. Sonst weit und breit nichts.

Noë macht sich auf und geht die Strasse entlang. Sie sieht keine anderen Menschen. Aber die Strasse wirkt trotzdem nicht unbelebt. Weiter vorne öffnet sich der Gehsteig zu einem kleinen Platz mit einem Brunnen und einer Bank. Dahinter kommt eine weitere freie Fläche. Als Noë darauf zugeht, erkennt sie weiter weg einen Drahtzaun. Neugierig geht sie über eine stoppelige Wiese darauf zu.

Der Zaun wird immer höher, je näher sie ihm kommt. Sie verwirft den anfänglichen Plan, darüber hinweg zu klettern. Aber sie sieht nun genauer, was sich hinter dem Zaun befindet: Eine Art kleine Stadt aus Hütten, Plätze mit Wasserstellen, grosse Feuerstellen. Und viele Menschen. Frauen, Männer, Kinder. Die improvisierte Stadt liegt nach unten versetzt in einer Kuhle, so dass sie vom Zaun aus bequem darauf hinuntern sehen kann. Sie beobachtet das Geschehen, ohne von den Menschen unten bemerkt zu werden. Die Kinder spielen fangen und verstecken. Die Erwachsenen haben ernste Gesichtsausdrücke. Sie sprechen leise miteinander. Ab und zu ruft jemand quer über das Gelände. Noë hört auch Geräusche, Hämmern, Klopfen, Knarren.

Sie geht ein Stück dem Zaun entlang und entdeckt am Rand der Häusersiedlung eine Art Zeltdach, darunter sieht sie lange Tische und Bänke. Auch hier ist eine Feuerstelle. Auf einem Tisch steht Blechgeschirr und Besteck. Auf einem anderen stehen Gläser. Aber die Tische sind leer, überhaupt hält sich niemand unter dem Zelt auf. Sie geht weiter dem Zaun entlang und beobachtet das Gelände. Sie hört ein kleines Kind weinen und sieht, wie eine Frau auf es zu geht, es vom Boden aufhebt und besänftigend auf es einredet.

Ein paar Meter daneben stecken ein paar Jugendliche die Köpfe zusammen. Eine von ihnen sagt laut, dass sie Hunger hat. Ein Junge schüttelt den Kopf und presst unverständliche Worte hervor. Sie schimpft mit ihm und er sagt darauf, dass sie ja gar nicht wisse, was Hunger und Durst ist. Dass sie drei Mal am Tag eine gesunde Malzeit bekomme. Dass sie verwöhnt sei. Sie wird richtig wütend und schreit ihn an: „Du redest wie einer von denen. Die alles haben und mehr verbrauchen, als alle anderen zusammen. Versuchst du mir etwa meinen Hunger abzusprechen?“

Der Junge antwortet nichts mehr. Er verlässt die Gruppe und Noë folgt ihm hinter dem Zaun ein Stücke weiter zu einem kleinen Platz mit einem verkümmerten Baum. Der Junge setzt sich auf den Boden. Dort zieht er ein Taschenmesser hervor und beginnt an einem Stück Holz zu schnitzen. Noë kann nicht erkennen, was er schnitzt. Aber schon bald kommt ein anderer Junge, der vorher mit der Gruppe der Jugendlichen herumgestanden ist. Er setzt sich auch und fragt, ob das die Ziege ist, die ihm früher gehört hat. Der erste Junge nickt. Der andere fragt weiter, warum er geflohen ist.

„Das war ja nicht meine Entscheidung… Ich war damals noch ganz klein, ich musste tun, was meine Eltern wollten. Und sie wollten fliehen. Mein Vater hat gesagt, dass es uns hier besser gehen werde. Dass wir hier immer genug zu Essen und zu trinken haben werden. Und dass er arbeiten wird und wir Geld haben um ein neues Haus zu bauen. Und jetzt schau, unser Leben ist nicht viel besser als es früher war. Klar, wir haben frisches Wasser und zu Essen. Aber früher… Die Ziege gehörte mir. Und dann mussten wir sie schlachten, weil sie sonst verdurstet wäre.“ Sie sassen schweigend beieinander.

Nach einer Weile erzählt der andere Junge, dass er eine kleine Schwester hatte, die auf der Reise verdurstet ist. Sie war noch ganz klein. Und seine Mutter spreche seither nicht mehr mit ihm. Sein Vater sei ertrunken, im Meer. Auch sie waren geflüchtet, um hier ein besseres Leben anzufangen. Da wo er her komme, herrschte Krieg und als niemand mehr da war, der kämpfen wollte, sei alles Land zerstört gewesen. Sie konnten nichts mehr anbauen, weil die Felder vermint waren. Sie hatten angefangen, die Felder zu räumen. Aber dann war eine Dürre gekommen und die letzten Büsche waren vertrocknet und verbrannt und die Erde hatte sich in Sand verwandelt und immer mehr Menschen hatten ihre paar Habseligkeiten zusammengepackt und waren gegangen. Übers Meer, in den Westen, dort hin, wo der Reichtum war. Und jetzt waren sie hier. Und hatten zu Essen und zu Trinken. Und sonst hatten sie nichts.

Die beiden sitzen wieder schweigend da, der eine schnitzend, der andere zuguckend. Und Noë geht weiter den Zaun entlang, bis sie zur nächsten Gruppe kommt. Es sind junge Frauen. Eine hat sich aus Samen und Blättern ein Armband gebastelt. Eine andere lacht sie aus deswegen. „Hast du das Gefühl, so wirst du zur Prinzessin? Hast du das Gefühl, so holt dich einer hier raus? Hast du noch nicht gemerkt, dass es keine Rolle spielt, ob du schön oder hässlich bist? Wir sind der Abschaum!“ Sie rennt davon.

Eine andere junge Frau beginnt besänftigend auf jene mit dem Armband einzureden: Die andere sei früher reich gewesen. Ihr Vater sei Zahnarzt gewesen. Habe eigentlich recht gut verdient. Sie hätten gut leben können. Aber das habe ihnen nicht gereicht. Sie hätten im Fernsehen gesehen, wie die Menschen im Westen lebten. Was sie sich alles leisten könnten. Und dann sei der Krieg gekommen. Das Leben sei härter geworden und das Geld weniger. Niemand kann sich gute Zähne leisten, wenn Krieg ist. Und da sei die Familie dann geflüchtet. „Sie haben gedacht, dass sie hier her kommen und reich werden und gut leben. Sie wollten doch einfach auch nur eine gerechte Chance haben.“

Die andere nickt traurig. Sie nimmt ihr Armband ab und wirft es in den Dreck. „Ich habe am Meer gewohnt, weisst du? Ich vermisse das Meer, die salzige Luft. Wir hatten nie viel, aber ich vermisse die Natur.“ Sie zieht ein zerknittertes Papier hervor und zeigt es der anderen. Diese lächelt.


wenn ich am meer bin

am meer gibt es viel wind

der wind macht wellen auf dem wasser

weisse schaumkronen tanzen

und das rauschen in mir singt eine melodie

die luft schmeckt klebrig und salzig

und ich weiss

auch das wasser ist salzig

es brennt in den augen und auf der haut

das meer schenkt mir

muscheln und schwämme

einen friedlichen nachmittag

und viel luft zum atmen

das meer ist aufgeregt

und gibt mir ruhe

es ist immer da

auch wenn ich nicht mehr dort bin

3. September 2018


Noë lauscht dem Gedicht. Es gefällt ihr. Es nimmt dem Meer das Bedrohliche. Sie denkt an ihr Gemälde, an die Wellen, die ins Boot der Flüchtlinge gefahren ist und an den Halbtoten, der fast ins Wasser fällt. Sie denkt daran, dass das Meer eine Gefahr ist, aber das es auch sehr schön ist. Und ihr wird schmerzlich bewusst, dass sie nie am Meer war. Sie geht den Zaun entlang, jetzt in ihre eigenen Gedanken versunken.

Vor einer der Hütten hat eine Frau eine Decke ausgebreitet und auf der Decke hat sie verschiedene Stoffe ausgelegt. Sie sind sehr bunt, leuchten. Jetzt türmt sie kleine Glasschalen daneben auf. In jeder Schale liegt eine andere Farbe. Es sieht fast aus wie farbiger Sand. Und eine Farbe leuchtet mehr als die nächste. Ein frisches Türkis, ganz hell und klar. Ein dunkles Grün. Ein Orange, dass einem fast den Atem raubt. Das Gelb wirkt gedämpft. Was für ein Schatz, den diese Frau hier der Öffentlichkeit Preis gibt.

utopia farben, ©saschademarmels
utopia farben, ©saschademarmels

Noë blickt hinüber zum Zeltdach, das näher am Zaun steht. Dort haben sich mittlerweile einige Menschen eingefunden. Gerade kommen zwei Männer mit einem grossen, dampfenden Topf. Sie stellen ihn auf der Feuerstelle ab und eine Frau beginnt mit einer grossen Kelle zu schöpfen. Die anderen reihen sich vor dem Topf auf, halten der Frau mit der Kelle einen Teller hin und gehen dann mit dem Essen an einen der Tische. Der Duft der Speise weht bis zu Noë hinüber: Scharf riecht es, es pickst in ihrer Nase. Und gleichzeitig nimmt sie etwas süssliches war. Etwas saures. Es riecht warm und nach Feuer. Noë spürt etwas in ihrem Magen, das fühlt sich an wie ein leichter Druck, ein dumpfes Stechen. Es breitet sich aus, rückt bis in die Speiseröhre. Und es fühlt sich irgendwie leer an. Es dauert eine ganze Weile, bis Noë versteht, dass dieses Gefühl Hunger ist.

Sie ist überwältigt von all den Eindrücken. Sie versteht, dass die Menschen hier in ziemlich ärmlichen, desolaten Verhältnissen leben. Aber irgendwie haben sie auch so viel mehr als sie selber. Sie leben in Mitten von Gefühlen, Eindrücken, Düften. Sie haben so viele Erinnerungen an Erlebnisse. Noë schämt sich, dass sie gerne mit den Flüchtlingen tauschen würde, denn sie weiss, dass diese kein leichtes Leben haben.

Bedrückt geht sie wieder zurück zum Platz mit dem Brunnen und die Strasse entlang zu ihrem Eingang. Sie zieht mit aller Kraft an der Glastür, die sich öffnet und gleich hinter ihr wieder ins Schloss fällt. Im dunkeln grauen Flur merkt sie, wie ihr die Tränen aus den Augen fliessen. Mit verschleiertem Blick macht sie sich zurück durch die vielen Flure. Immer mehr Tränen kullern ihr über die Wangen. Sie sieht gar nicht mehr, wo sie eigentlich lang geht, setzt einfach Fuss vor Fuss, macht Schritt für Schritt, bis sie wie durch ein Wunder vor ihrem eigenen Zimmer im weinroten Flur ankommt.

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