utopia – 28: vergammeltes fleisch und ranzige butter

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Jetzt muss sie unbedingt einmal zurück, nach Luis schauen und nach all ihren andern Friends. Es könnte ja sein, dass sich tatsächlich jemand Sorgen um sie macht. Noë liegt auf ihrer Matratze und atmet tief durch.

Eigentlich möchte sie nicht zurück in ihre Welt. Viel lieber würde sie hier bleiben und neue Menschen kennen lernen. Aber sie hat auch ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Dass sie einfach so abgehauen ist. Und dass sie diese neue Welt für sich behalten will. Und darum hebt sie nun ihre Hand an die Schläfe und presst die Augen zusammen. Das linke Auge beginnt zu zucken und als sie die Augen wieder öffnete, lag sie in ihrem Bett, in ihrer Wohnung.

Es brauchte eine Weile, bis sie begriff, was vor sich ging: Nachrichten ihrer Friends prasselten auf sie ein. Alle Nachrichten, die sie während ihrer Abwesenheit verpasst hatte. Einer hatte einen Vogel gesehen. Eine hatte ein Ei gegessen. Eine hatte einen Kaffee getrunken, obwohl sie lieber Tee gehabt hätte. Einer hatte einen Schmetterling gesehen, aber war sich nicht mehr sicher, ob er es vielleicht nur geträumt hatte.

Noë stand auf und ging durch den Flur in die Küche. Irgendetwas stimmte nicht. Sie wusste nicht genau was. Roch es seltsam? Sie spähte in die Küche, auf den Tisch. Nichts besonderes fiel ihr auf. Sie öffnete den Kühlschrank. Er war dunkel. Sie musste die Türe ganz weit aufmachen, damit das fahle Licht von draussen die Regale etwas erhellte. Jetzt sah sie etwas angeschmolzenen Käse, vergammeltes Fleisch und ranzige Butter. Eine Flasche grünliche Milch. Zwei kleine, verschrumpelte Zucchini. Das oberste Regal war leer. Was war denn hier passiert?

Sie ging ins Wohnzimmer. Erstaunt blickte sie auf die Wand: Da war noch immer ihr Gemälde aus Beerenmus, das Boot voller Wellen und ein halbtoter Flüchtling, der fast aus dem Boot ins Wasser fiel. Wieso ausgerechnet diese miserable Variante ihrer Malkunst sich gehalten hatte, war ihr ein Rätsel. Aber irgendwie schien sie es geschafft zu haben, das Bild dieses eine Mal nachhaltig zu malen. Sie betrachtete das Bild kopfschüttelnd, während sie sich auf das Sofa abstützte. Als sie sich kurz darauf mit der Hand durch die Haare fuhr, bemerkte sie, dass diese voller Beerenmus war, dass sie wohl bei ihrer Kunstaktion versehentlich an der Lehne des Sofas abgestrichen hatte. Angeekelt ging sie ins Badezimmer, um sich das Mus abzuwaschen.

Dann begab sie sich hinaus und zum Café Meetingpoint. Während sie die Strasse entlang lief, hämmerte es in ihrem Kopf: Hauseingang an Fenster an Hauseingang an Fenster. Der Himmel über ihr war gleichmässig graublau. Sie erinnerte sich an die Sonne, die ihr am Pool auf den Rücken geschienen hatte. Und sie spürte in ihrer Erinnerung wieder die Kraft, die in sie hinein geflossen war. Die Strasse, die Häuser, die Hauseingänge, alles kam ihr heute schäbig vor.

Im Café Meetingpoint sah sie von weitem Luis. Er winkte ihr zu. Er habe sie schon lange nicht mehr gesehen. Er hätte sich schon Sorgen gemacht, sagte er ihr. Es gehe ihr gut, antwortete sie. Sie hätte eine neue Welt entdeckt. Luis erzählte ihr, dass auch er eine neue Entdeckung gemacht hätte. Er hätte ein neues Brotrezept ausprobiert. Mit Mandeln und Rosinen. Noë seufzte. Sie freute sich für Luis. Aber sie dachte, dass sie doch eigentlich viel bessere Neuigkeiten hatte. Dann atmete sie noch einmal gut durch und platze heraus, sie habe eine neue Welt entdeckt, in einem grossen Haus mit langen Fluren. Und sie habe einen Computer und das Internet und die vielen Informationen und man könne alles bestellen, was man nur wolle. Er habe alles, was er brauche, sagte Luis.

Aber nein, es sei eine ganz andere Welt. Und Noë erzählte von der Kerze und der Kuscheldecke, die einem Wärme und ein Gefühl von Geborgenheit gebe. Luis fragte sie besorgt, ob sie denn kalt hätte. Ob sie etwa Fieber hätte. Ob sie krank sei. Noë brummte ungeduldig. Sie versuchte zu erklären, dass man all diese Dinge geniessen könne. Sie versuchte zu beschreiben, wie eine Nuss schmeckte. Und wie es sich anfühlte, wenn einem die Sonne auf den Rücken schien. Luis schaute sie mit grossen Augen an, aber Noë merkte, dass es ihn nicht wirklich interessierte.

Eine Frau betrat das Café. Sie blickte sich um, steuerte zuerst einen Platz am Fenster an, schwenkte dann aber um, als Luis ihr freundlich zuwinkte. Sie setzte sich an den Tisch, schaute Noë an und fragte sie, ob sie oft hier war. Noë sagte, manchmal schon, aber die letzten Tage sei sie weg gewesen. Sie hätte eine neue Welt entdeckt. Ob die Frau die Stadt auch schon einmal verlassen habe? Aber sie schüttelte den Kopf. Wozu auch, fragte sie, es sei doch sehr schön hier.

Eine Weile herrschte bedrückte Stille. Dann startete Noë einen neuen Versuch. Sie erzählte von den Erdnüssen. Dass diese dufteten und schmeckten und eine Konsistenz hatten. Das Interesse bei Luis und der Frau war überschaubar. Die Frau erzählte aber, dass sie gerade ein Buch las, das von Südamerika handle und von einem Bauer, der dort Nüsse anpflanzte. Und seine Tochter gut verheiraten wollte. Und dann wollte er keine Nüsse mehr anpflanzen, sondern Mais, weil sich dieser besser verkaufen liess. Noë versuchte ruhig zu atmen.

Später ging die Frau wieder und sie blieben zu zweit am Tisch sitzen. Noë spürte, dass sie Luis nicht einfach aufgeben wollte. Aber sie war auch langsam der Verzweiflung nahe. Sie versuchte ihn noch einmal auf das Zucken in den Augen anzusprechen. Aber Luis verstand nicht, wovon sie sprach. Seine Augen zuckten nie und er befand sich auch nicht plötzlich an einem anderen Ort. Noës neue Welt fand er etwas unheimlich und er verspürte keinerlei Lust, mit ihr dahin zu gehen.

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