utopia – 27: sonne auf steinen

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Als Noë wieder ausgeschlafen erwacht, zögert sie: Soll sie wirklich zurück in ihre alte Welt? Hier gibt es noch so viel zu entdecken. Was, wenn sie sich plötzlich nicht mehr hierher zwinkern kann?

Auf keinen Fall möchte sie diese neue Welt freiwillig wieder hergeben. Sie vermisst zwar Luis und sorgt sich etwas um ihn. Aber sie möchte hier erst noch alles entdecken, was es zu entdecken gibt. Ihr Blick schweift zur Tür. Wenn die Tür sich öffnen lässt, dann wird sie sich aus dem Zimmer wagen. Ist sie aber verschlossen, dann wird sie erst nach Luis sehen. Sie atmet tief durch und spürt, wie ihr Herz etwas schneller zu schlagen beginnt. Ihre Hand streift kurz über die weiche Kuscheldecke. Dann steht sie auf und geht zur Tür.

Sie drückt die Klinke herunter. Diese gibt mit einem leichten Knarzen nach. Noë zieht die Türe zu sich und sie öffnet sich tatsächlich einen Spalt breit. Sie steckt den Kopf hinaus: Ein langer Flur liegt vor ihr, erstreckt sich auf beide Seiten in die Weite. Und es reiht sich Tür an Tür. Sie guckt an sich herunter: Sie trägt eine Art Nachthemd und ist noch immer barfuss. Aber da sie keine anderen Kleider hat, bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich so auf den Weg zu machen. Später konnte sie dann Kleider und Schuhe im Internet bestellen. Aber jetzt gab es kein Halten mehr, sie wollte raus.

Der Boden im Flur ist aus grünlichem Stein, kalt und glatt. Die Luft um sie ist auch kühl, aber nicht all zu kühl. Es ist verkraftbar, selbst wenn man nur mit einem Nachthemd bekleidet ist. Regelmässig zwischen den Türen sind Lampen an den Wänden angebracht. Der Flur ist nicht hell beleuchtet, aber ausreichend. Fast wie mit Kerzenschein, denkt Noë. Auch die Wände schimmern grünlich. Plötzlich fährt ihr der Schreck in die Glieder: Wenn hier alles so ähnlich aussieht, wie soll sie denn da ihr Zimmer wieder finden? Sie betrachtet die Türen und erkennt, dass sie mit Nummern versehen sind. Sie geht zurück zur Türe, aus der sie gekommen ist. Sie ist noch angelehnt und trägt die Nummer 19990331. Beruhigt geht sie wieder den Gang entlang, an den vielen, vielen Türen vorbei. Sie ahnt, dass sich hinter jeder Türe ein kleines, fensterloses Zimmer verbirgt, mit einer wärmenden Matratze und wahrscheinlich mit einem Tisch, einem Stuhl und einem Computer.

Der Flur mündet in einem anderen, etwas breiterem Flur. Dieser ist in der Mitte mit einem roten Teppich belegt und auch die Wände sind rot. Der Teppich fühlt sich wärmer an als der Steinboden unter den nackten Füssen. Rau, aber irgendwie auch weich. Er federt die Schritte ab. Noë wendet sich nach links. Vor ihr liegen wieder eine Unmenge an Türen. Sie blickt kurz auf die Nummer der Türe unmittelbar neben der Abzweigung in ihren Flur – 20030515 – und beginnt auf dem Teppich weiterzuspazieren. Plötzlich erkennt sie, dass der Flur weiter hinten eine Biegung macht und in dieser Biegung ist eine Lücke zwischen all den Türen. Ein Fenster oder vielleicht sogar eine Glastüre. Noë rennt darauf zu.

Tatsächlich: Mitten im Türen-Wirrwarr befindet sich ein Ausgang zu einer Art Terrasse. Sie ist von hohen Mauern umgeben, das heisst, man kann nicht hinunterschauen. Aber gegen oben ist sie offen. Noë sieht den Himmel, himmelblau und mit kleinen weissen Wölkchen übersät. Auf der einen Seite etwas dunkler. Und sie sieht die Sonne. Sie zögert keinen Augenblick, öffnet die Glastür und tritt auf die Steinplatten hinaus.

Sie liebt diese Steine. Die Farbe. Fast bernsteinfarben sind sie, in diesem späten Morgenlicht. Bei schlechtem Wetter wären sie wohl etwas blasser. Im Hochsommer, zur Mittagszeit, fast weisslich kühl oder vielleicht auch gleissend. Und sonst beige, leicht gelblich warm. Die poröse Oberfläche, das weite, natürliche Muster. Sie folgt mit ihrer Hand dem Relief, das tausende von Jahren zuvor wohl das Wasser eingefressen hat.

utopia steine, ©saschademarmels
utopia steine, ©saschademarmels

Barfuss läuft sie über die Steine, die nicht nur die Wände, sondern auch den Boden bedecken. Auch mit den Fussspitzen ertastet sie das Poröse. In einer Ecke liegt ein Pool. Sie blickt in das Dunkeltürkis des Wassers. Das Glitzern. Die verschwimmenden Formen der Mosaiksteine unter Wasser. Die Steine wirken natürlich, statistische normal verteilt. Wie zufällig dort gewachsen.

Noë setzt sich an den Rand des Pools, lässt die Beine baumeln und berührt mit den Fussspitzen vorsichtig das Wasser. Erst scheint es sehr kalt zu sein. Ein kleiner Schmerz durchfährt sie bis in die Oberschenkel. Aber dann breitet sich eine wohlige Wärme in ihren Füssen und Waden aus. Das Wasser ist angenehm und prickelnd. Sie stützt sich mit den Armen ab und blickt zum Himmel hinauf.

utopia pool, ©saschademarmels
utopia pool, ©saschademarmels

Noë spürt, wie es wärmer wird. Sie erinnert sich an den Text zur Sonnenwärme, den sie im Gedichtband gelesen hat. Wie einem manchmal gar nicht auffällt, dass es wärmer wird, bis einem schon ganz heiss ist. Und wie man die Wärme spürt, an einzelnen Körperstellen. Sie schliesst die Augen und spürt, wie die Sonne ihr auf den Rücken scheint. Und sie spürt diese Kraft, diese Energie, die durch die Wärme in ihren Köprer hinein fliesst. Ruhig und still sitzt sie am Rand des Pools. Und spürt dieser Kraft nach. Dieser Energie, die sich langsam in ihr ausdehnt.

utopia sonne, ©saschademarmels
utopia sonne, ©saschademarmels

Sie streckt die Hand aus und versucht die Sonne blindlings zu ertasten. Zu erfühlen. Die Sonnenstrahlen zu berühren. Und sie merkt langsam, wie heiss ihr Körper schon ist, wie sie unter dem Haaransatz schwitzt. Und gleichzeitig fühlt sie sich in dieser Wärme auch geborgen. Und voller Kraft. Immer wieder denkt sie, wie kräftig sie sich fühlt. Viel kräftiger schon, als wo sie das erste Mal von der Matratze gestiegen ist und in ihr alle Muskeln gezuckt haben. Sie hat das Gefühl, dass sie jetzt richtig in dieser neuen Welt angekommen ist.

Die Sonne wandert weiter und taucht den Pool wieder ganz in den Schatten. Das Glitzern auf der Wasseroberfläche verschwindet und Noë fröstelt in ihrem Nachthemd. Sie beschliesst, zurück in ihr Zimmer zu gehen und sich richtige Kleider zu bestellen und Schuhe. Damit sie diese Welt auch angemessen erkunden kann.

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