utopia – 29: eine zerreissprobe

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë fühlte sich erschöpft und enttäuscht. Sie griff sich mit der Hand an die Schläfe, presse die Augen zusammen, bis ihr linkes Auge anfing zu zucken und wünschte sich in den fensterlosen Raum mit dem Computer. Und als sie die Augen wieder aufmacht, liegt sie auf der wärmenden Matratze.

Sie befühlt diese mit der Hand, fährt der Oberfläche entlang und alleine schon die Wärme, die von ihr ausgeht, gibt ihr wieder neue Kraft und neuen Mut. Sie setzt sich auf und überlegt, was sie als nächstes tun möchte. Sie möchte sich Kleider bestellen, aus dem Internet, damit sie wieder im Gebäude herumgehen, vielleicht sogar hinaus auf die Strasse gehen kann. Sie setzt sich an den Computer, sucht nach einem Kleidershop und bestellt sich eine Jeans, ein T-Shirt, Socken, schwarze Turnschuhe.

Die Wartezeit bis zur Lieferung verbringt sie mit Surfen. Sie guckt sich Seiten an, die Reisen in ferne Länder anpreisen. Mit Bildern von Wäldern, Wüsten, Meeren. Sie kommt auf eine Seite, die Fahrräder verkauft. Auch Fahrräder mit Elektromotor, damit man nicht so schnell müde wird. Und sie findet eine Seite mit vielen Kochrezepten. Diese sind eingeteilt in Vorspeise, Hauptspeise und Nachtisch. Aber auch in Speisen mit und ohne Fleisch, vegane Gerichte und Rohkost. Noë überlegt: Wann hat sie eigentlich das letzte Mal richtig etwas gegessen? Sie verspürt keinen Hunger. Sie erinnert sich an den Zeitungsartikel über die Einzellungstechnologie: Über eine Art Matratze werden die Menschen mit den nötigen Nahrungsmitteln versorgt. Vielleicht ist ihre Matratze ja auch so eine?

Sie klickt sich auf die Seite mit dem Blog von Jara Vester Kaufmann und betrachtet wieder und wieder die Bilder der Wälder und wie sie auf manchen Fotos einfach verschwunden sind. Plötzlich entdeckt sie unten auf der Seite das Wort „privat“. Sie fährt mit dem Mauszeiger darüber und tatsächlich, er wird zur Hand. Sie klickt auf den Link und landet auf einer neuen Seite mit dem Titel „Private Aufzeichnungen“. Viele Texte, alle mit Daten versehen, sind darunter wild durcheinander aufgelistet.

12.03.2019
Heute ist mir wieder einmal aufgefallen, wie sehr sich die Welt in den letzten Jahren doch verändert hat. Ich erinnere mich an früher, wenn wir zur Grossmutter nach Haus gefahren sind, meine Mutter und ich. Ganze Nachmittage lang haben Mutter und Grossmutter ihre Köpfe in Kisten mit alten Fotos gesteckt. Haben sich erinnert an Menschen von früher, an Ereignisse. Immer und immer wieder haben sie dieselben Geschichten von früher erzählt. Sie waren glücklich dabei. Und wer druckt heute noch Fotos aus? Sie sind gespeichert auf dem Computer und geraten dort auf der Festplatte in Vergessenheit.
Wenn wir meine Mutter besuchen gehen, dann reden wir kaum. Erst recht nicht von früher. Leon und Frerika verstehen sich nicht. Ich wundere mich darüber immer wieder. Sie sind sich so ähnlich. Irgendwann beginnen wir gezwungenermassen über das aktuelle Geschehen zu diskutieren. Und da scheiden sich die Geister. Der Zustand der Welt wird immer trauriger. Und niemand scheint eine Lösung zu haben. Der Besuch endet im Streit. Ich sammle die Kinder auf und wir gehen.
Wenn ich mir heute die Bilder ansehe, von damals, als ich so klein war, da fallen mir dann vor allem die Umstände ein: Wie wir alleine waren, Mutter und ich. Wie wir kämpfen mussten. Und wie sie doch immer darauf bestanden hat, dass ich meinen Weg gehe. Klar, es gibt auch schöne Erlebnisse. Aber irgendwie lag schon immer ein Schatten auf meinem Leben. Was habe ich denn meinen Kindern zu bieten? Und wie sich alleine die Landschaften verändert haben. In den letzten Jahren sind so viele Bäume und Pflanzen verschwunden. Als ich ein Kind war, gab es auf den Wiesen noch Blumen. Und schon damals hat mir meine Mutter gesagt, dass es kaum noch natürliche Wiesenblumen gebe und dass früher alles viel bunter war.

25.12.2017
Die Kinder schlafen endlich. Wir haben den alten Trick angewendet, der so gar nicht ökologisch ist: Wir haben sie ins Auto gepackt und sind eine halbe Stunde einfach so rumgefahren. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Aber ich konnte auch einfach nicht mehr. Es ist anstrengend mit zwei Kleinen.
Ich habe mich erinnert, wie das für mich war. Selten nur war es, aber wenn wir nachts mit dem Auto unterwegs waren, lag ich hinten im Sitz und habe durch die Fensterscheiben gesehen, wie das Licht der Strassenlampen näher kam und wieder verschwand. Ein sehr beruhigender Rhythmus. Er hat sich immer wiederholt. Und er hat mich ganz schläfrig gemacht. Und das funktioniert auch heute noch, mit unseren Kindern. Rhythmus beruhigt. Es ist gut, dass man sich überhaupt noch irgendwie beruhigen kann. Mir hat die nächtliche Autofahrt auch gut getan. Wie viele Bäume mussten dafür wohl sterben?

Hauseingang an Fenster an Hauseingang an Fenster. Noë nickt rhythmisch mit dem Kopf. Dann fährt sie hoch. Lässt sie dieses Muster denn niemals in Ruhe? Gleichzeitig merkt sie aber auch, wie Rhythmus tatsächlich beruhigend sein kann, wie sie etwas schläfrig wird. Und wie ihr Herz gleichmässig schlägt. Ruhig liest sie weiter in den privaten Aufzeichnungen von Jara Vester Kaufmann.

10.01.2020
Die Welt wird mir immer unerträglicher. Und ich muss mich richtig zusammenreissen, es vor den Kindern nicht zu zeigen. Sie nehmen alles war. Sie sind schon richtige kleine Personen. Sensibel sind sie, wie ihre Eltern auch. Aber ich kann sie mit Tricks immer wieder schnell beruhigen. Zum Beispiel mit ihrem Lieblingslied von der kleinen Maus, die ein winziges Haus hat und nirgends etwas zum Fressen findet. Es ist eigentlich ein beunruhigendes Lied. Bald wird es uns Menschen auch so gehen, dass wir nichts mehr zu essen haben. Und nicht erst jetzt ist es natürlich so, dass gewisse Menschen ausgeschlossen werden und dass man sie nirgends haben will. Die Flüchtlingskrise hat inzwischen Ausmasse angenommen, die man sich vor wenigen Jahren überhaupt nicht vorstellen konnte. Die ganze Welt scheint im Aufbruch zu sein.

Da war sie also wieder, die Flüchtlingskrise. Da waren die Menschen, die kein Zuhause mehr hatten. Aber was hatte das mit der Maus zu tun? Noë überlegte. Und während sie nachdachte, formten sich in ihrem Kopf unwillkürlich Worte und eine Melodie.


I bin es chliises Müüsli
und winzig isch mis Hüüsli
und muäni öppis Zfresse haa
denn weiss i nöd wo anegoh

Im Feld tuänds mi väjaage
und s Chätzli tuät mi plooge
und gangi ines grosses Huus
rüeft Gross und Chli e Muus, e Muus


Noë wunderte sich. Sie konnte sich nicht erinnern, woher sie dieses Lied kannte. Aber es konnte gut sein, dass es genau das Lied war, wovon sie gerade in den Aufzeichnungen von Jara gelesen hatte. Neugierig wandte sie sich wieder den Texten zu.

02.04.2018
Mir scheint die Welt immer ungemütlicher zu werden. Das politische Klima, die Art und Weise, wie die Menschen miteinander umgehen. Überall ist es laut und wenn man selber nicht laut ist, geht man einfach unter.
Die Kinder merken davon noch nichts. Aber bald wird der Zeitpunkt da sein, wo sie merken, wie die weitere Umwelt auf sie reagiert. Wo sie auch merken, unter welchem Druck wir, ihre Eltern, stehen. Und wir stehen unter Druck. Leon kommt immer später nach Hause. Er will nicht mehr mit mir über die aktuellen Geschehnisse sprechen. Wenn wir bei Mutter sind, kommt es jedes Mal zum Streit.
Es kommt mir so vor, dass die Welt nur noch funktioniert, weil alle den Druck nach unten weiter geben. Aber irgendwann ist er unten angekommen. Irgendwer kann ihn nicht mehr weitergeben. Und was dann? Vielleicht kommt es irgendwann zu einem Aufstand der Schwächsten? Es muss fast zwangsläufig dazu kommen. Das, oder sie beginnen sich reihenweise umzubringen. An wen gebe ich den Druck auf mich weiter? Ich hoffe, nicht an die Kinder. Ich versuche auch Leon zu schützen. Und Mutter. Auf irgendjemanden geht es immer. Gestern habe ich die Frau im Labor ausgeschimpft. Wegen einer Lappalie.
Vielleicht, wenn wir aufs Land ziehen würden? Unseren Beruf aufgeben. Aber da würde Leon nie mitmachen. Und ich möchte auch nicht aufgeben. Nicht jetzt. Auch wenn es mich fast zerreisst.

Was zerreisst sie wohl, diese Jara Vester Kaufmann? Noë denkt an Luis und daran, dass er sie einfach nicht verstehen will oder kann. Daran, dass sie ihm einfach nicht klar machen kann, wie sie sich fühlt. Dass sie daran fast verzweifelt, weil sie ihn eigentlich nicht verlieren will. Und dass sie das fast zerreisst. Dass sie nicht mehr in ihre Welt gehört, nicht in ihre Wohnung, nicht ins Café Meetingpoint.

Noë spürt, wie sie nur noch schwer atmen kann, wie alles um sie herum eng wird. Wie sie friert, obwohl ihr nicht kalt ist. Sie legt sich auf die Matratze und wickelt sich fest in ihre Decke. Kuschelt sich so richtig ein und versucht langsam und ruhig zu atmen. Sie denkt an das Regengedicht und daran, wie die Sonne ihren Rücken gewärmt hat. An die Energie, die sie gespürt hat. Sie schliesst die Augen und irgendwann schläft sie ein.

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