[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]
„ Nach dem Zusammenbruch der Einzellungsgesellschaft habe ich neuen Mut geschöpft. Wir hatten jetzt mehr Freiheiten. Die Bunker wurden nicht mehr überwacht. Und das System nicht mehr. Ich konnte mich ungestört in VR einhacken und ich habe für Noë eine neue Realität kreiert, in der ich ihr mehr und mehr von der Wirklichkeit erzählen konnte.
„ Das Gebäude…
„ Ein Gebäude, so wie ich mir den Bunker vorstelle. Ich habe ihn etwas schöner gemacht, denn all zu viel darf man den Eingezellten auf einmal ja nicht zumuten. Ich habe ihr auch die Möglichkeit gegeben, sich mittels Zwinkern von einer in die andere Welt zu versetzen. So konnte sie wieder in ihre gewohnte Umgebung zurückkehren, wenn sie das brauchte. Ich habe ihr noch mehr Gefühlstexte zukommen lassen, aber auch mehr Informationen über die Realität. Ich habe sogar Informationen zur Einzellung eingestreut. Sorgfältig und langsam, um sie ja nicht zu überfordern. Ich habe ihr Zugang zum alten Internet verschafft.
„ Das alte Internet. Das Internet, dass es früher gab? Vor dem Kollaps?
„ Ja, das. Es ist immer noch vorhanden, wird einfach nicht mehr genutzt. Nun ja, einige Server gibt es natürlich nicht mehr. Ich musste manchmal etwas improvisieren. Aber auf jeden Fall hatte Noë die Möglichkeit, selber nach Informationen zu suchen. Und mittlerweile hatte ich ihre Neugierde geweckt. Das Gute daran ist, dass sie jetzt ihr eigenes Tempo gehen konnte: Sie konnte sich soweit und tief informieren, wie sie es gerade ertrug.
„ Und das hat sie getan… Die Informationen haben sie beschäftigt. Aber sie hat sie angenommen…
„ Ja. Aber dann…. Ich habe wirklich Angst, dass ihr nun etwas zugestossen ist. Irgendwie ist der Kontakt abgebrochen. Ich konnte sie nicht mehr erreichen. Das war kurz bevor ich so krank wurde. Und jetzt weiss ich nicht, ob sie überhaupt noch lebt. Es ist wichtig, dass der Generator läuft.
„ Der Generator läuft, Grossmutter. Es ist nur…
„ Das System ist irgendwie zu komplex geworden. Es verkraftet Gefühle nicht. Sie sind zu kompliziert. Das war auch das Problem von SIN-GL Ing. VR war viel komplexer, als sie anfänglich gedacht hatten. Und darum haben sie dann eben die Gefühle reduziert.
„ Grossmutter…
„ Oder vielleicht war es doch zu viel für sie? Vielleicht ist ihr Bewusstsein nicht mit der neuen Realität zurecht gekommen? Habe ich sie etwa umgebracht? Nach all den Jahren? Ach, Tam, ach, ach, ach…
…
prasseln. rasseln. knallen. krachen. dröhnen. kullern. steine rutschen talwärts, lösen sich voneinander. überschlagen sich. springen hoch und kullern weiter. tanzen fast. alle angesogen von der erdanziehungskraft. schneller, langsamer. fast in zeitlupe und doch unaufhaltsam. alle immer weiter talwärts. unaufhaltsam. immer weiter runter. mit gewalt und kraft. und lärm. laut. und eckig. spitz. kantig. zackig. alle mit einem mal zu tal. reissen mit sich, was sie können, bäume, wurzeln, äste, blätter. hinterlassen eine furche der zerstörung. grau, platt. leblos. still. die stillste stille, nach dem brausendsten sturm. still. still. still.
…
„ Grosmutter? Geht es wieder? Du sollst dich doch nicht so aufregen. Du musst gut zu dir schauen…
„ Ach, Tam. Ich habe alles kaputt gemacht. Wie konnte ich nur?
„ Nein, Grossmutter, alles wird gut werden. Es muss einfach.
„ Tam, ich habe wirklich versucht, alles zu flicken. Aber es war so komplex. Als Noë angefangen hat, selber zu denken und zu fühlen, ist die Komplexität des virtuellen Programms exponentiell angestiegen. Meine virtuelle Realität hat sich selbständig gemacht. Ich war nur noch mit Flicken beschäftigt.
„ Wie hast du das hingekriegt? Was hast du gemacht, um das Programm zu reparieren?
„ Einmal hat sich plötzlich die Farbe des Flurs verändert. Und Noë hat es gemerkt. Früher hatte sie nichts Ungewöhnliches bemerkt in VR. Aber zu diesem Zeitpunkt war sie schon so weit. Es war zu offensichtlich. Ich habe nach der nächsten Ecke einen Wagen mit Farbe hinprogrammiert und Instrumente um Teppiche zuzuschneiden und zu verlegen. Sie hat es geglaubt.
„ Aber das Programm… Also… Du hast nicht das Programm selber geflickt?
„ Nein, nicht das Programm. Die Auswirkungen. Ich musste Noë im Glauben lassen, dass sie sich in der Realität befindet. Sonst hätte ihr Bewusstsein ausgesetzt und sie wäre wohl gestorben.
„ Aber irgendwie müssen wir ihr doch sagen, dass sie eingezellt ist. Sonst können wir sie doch nicht befreien… Oder?
„ Ja, irgendwann. Wenn sie soweit ist. Und sie muss es selber herausfinden. Das sagen alle, die es lebendig aus VR geschafft haben.
„ Es gibt also bereits Befreite?
„ Ja, es gibt ein paar wenige. Vor allem die CFM, aber die wussten natürlich von Anfang an, dass sie in einer virtuellen Realität waren. Ein paar wenige andere. Die haben alle selber herausgefunden, dass das um sie herum nicht echt ist. Noë muss es also unbedingt selber herausfinden.
„ Und das Programm?
„ Das Programm ist einigermassen stabil. Solange Noë sich überzeugen lässt, dass Fehler natürlich sind. Das Gebäude ist klar abgegrenzt. Die Flure folgen immer demselben Muster. Das ist verkraftbar. Es darf nur nicht komplexer werden.
…
links oder rechts? rot oder grün? süss oder sauer? hoch oder tief? nass oder trocken? eckig oder rund? warm oder kalt? mild oder scharf? hart oder weich? lieb oder bös? null oder eins? rauf oder runter? blau oder gelb? hellgrün oder dunkelgrün? essen oder trinken? verdursten oder verhungern? leben oder sterben? schlafen oder wachen? geniessen oder leiden? und oder oder? oder und und?
…
„ Grossmutter, wäre es nicht hilfreich, wenn das Programm seine Macken hat. Vielleicht merkt Noë dann ja, dass sie nicht in der Realität ist.
„ Aber das ist vielleicht zu viel auf einmal. Wer weiss, ob das ihre Psyche so verdauen kann. Am besten wäre es, sie kommt in einer neutralen Realität darauf, von selber.
„ Und wenn wir ihr ein Stück Realität zeigen? Ein Flüchtlingslager zum Beispiel?
„ Tam, auf keinen Fall! Das würde die Kapazität des Programms sprengen. Es würde in sich zusammenfallen. Und mit ihm wahrscheinlich Noë. Nein, wir müssen das Programm selber unbedingt so einfach wie möglich halten. Ganz zu schweigen davon, dass das sonst auch unser Generator nicht mehr lange mitmacht, all die Rechenleistung…
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