[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]
„ Grossmutter? Wie hast du von ihrem Tod erfahren? Warum wusstest du, das Noë nicht tot ist?
„ Es war ganz schwierig… Die Regierungen steckten ja auch mit drin und darum gab es offiziell keine Informationen dazu. Man konnte nicht gegen die Einzellungsgesellschaft vorgehen. Und man konnte auch nicht offen recherchieren. Damit machte man sich sofort verdächtig. Und die Regierungen waren sehr auf der Hut.
„ Was hast du gemacht? Wie bist du an Informationen gekommen, Grossmutter?
„ Ich habe Leute gefunden, die ebenfalls jemanden in der Einzellung hatten oder auch geliebte Menschen verloren hatten. Aktivisten. Ich habe mich ihnen angeschlossen. Wir haben Betroffene gesucht und alle Informationen zusammengelegt, die wir irgendwo finden konnten. Vereinzelt waren auch Personen dabei, die früher bei SIN-GL Ing. gearbeitet hatten. Sie konnten uns Insiderinformationen geben. Schliesslich haben wir herausgefunden, wo die eingezellten Menschen gelagert wurden. Sie waren in grossen Bunkern. Also haben wir angefangen, einzubrechen und eine Bestandesaufnahme zu machen von denen, die noch lebten.
„ Und die Toten? Was war mit den Toten?
„ Die wurden irgendwo entsorgt, die haben wir nie gefunden. In den Bunkern waren nur jene, die den Einzellungsprozess überlebt hatten.
„ Und wie sah es dort aus? Wenn du sagst Bunker…
„ Ich war nie dort. Ich hatte ja ein kleines Kind zu versorgen. Darum war ich nur für die Informationskoordination eingeteilt. Wäre ich geschnappt worden, dann hättest du gar niemanden mehr gehabt.
„ Und meine Eltern waren nicht im Bunker?
„ Ich wusste schon vorher, dass sie tot waren. Ich hatte ein Protokoll gesehen. Sie waren gar nie in den Bunker überführt worden. Aber ich hatte Hoffnung, dass Noë noch am Leben ist. Und eines Morgens habe ich die Nachricht erhalten, dass sie sie tatsächlich gefunden hatten. In einem der Bunker. Sie lebte!
„ Warum haben sie sie nicht gleich mit nach Hause gebracht? Warum haben sie sie da liegen gelassen?
„ Am Anfang haben sie versucht, die Eingezellten aufzuwecken. Aber es hat nicht funktioniert. Sie sind gestorben, sobald sie begriffen haben, dass sie sich in einer virtuellen Realität befunden hatten. Dazu kamen die vielen Drogen, die ihnen verabreicht wurden, damit sie sich überhaupt in einem bewussten Zustand in VR aufhalten konnten. Der Hypothalamus – das Kontrollzentrum des Körpers im Hirn – musste ausgeschaltet werden. Es steuert Gefühle wie Hunger und Durst und hält die Körpertemperatur konstant. Wenn man den Körper irgendwo lagert und das Bewusstsein in eine virtuelle Realität versetzt, stören all diese Gefühle nur. Die Drogen sollten darum diese Gefühle eindämmen.
„ Ihr konntet die Menschen also nicht retten… Was habt ihr dann gemacht?
„ Wir haben eine Bestandesaufnahme aller lebenden Personen gemacht. Und wir wollten daran arbeiten, wie man sie aus VR und der Einzellung befreien könnte. Aber dann …
„ … Dann kollabierte die Umwelt?
„ … Das kam erst später. Zuerst… Die vorzeitige Ankunft der Zukunft…Ach… Und dann… Selbstbestimmung und zu viel Wahlmöglichkeiten… Natur ist nicht demokratisch… Ach… Keine Wahl mehr… twentyfiftypdc
„ Grossmutter, ruh dich etwas aus! Ich muss sowieso mal in den Garten und dem Gemüse schauen. Es wird bald wieder Regen kommen.
…
die unergründlichkeit der weite. die weite des alls. die sterne, leuchtend, hübsch und nett. so viel romantik. so viel physik. nie hat jemand von der chemie erzählt. von der chemie der sterne. von der chemie des alls. immer nur ging es ums glitzern und glänzen. ums leuchten und um den ganzen plunder.
die zeitrechnung. erreicht andere tage. andere dimensionen. wie viel schneller. wie plötzlich. wie unvorhersehbar. wie unbedarft und wie fatal. wir hatten einfach keine ahnung. haben aufs falsche pferd gesetzt. es ging zu schnell zu falsch in eine andere richtung. es ging nach hinten los.
wer hat gesetzt, gewettet. wer hat gespielt und um wessen leben. es musste schnell gehen und es ging schnell. für einmal wurde nicht lange gezaudert. für einmal haben wir schnell verloren.
Tempel 1, Hyakutake, Machholz, Kohoutek, Biela, Ikeya-Seki, Wild 2, Tempel-Tuttle, Borrelly, 17P/Holmes, Donati, Hartley 2, Giacobini-Zinner, Halley, Encke, Shoemaker-Levy 9, Swift-Tuttle, Tschurjumow-Gerassimenko, Grigg-Skjellerup, Hale-Bopp
ihr seid gekommen und gegangen. ihr habt uns begleitet und bestaunt. und dann auf einen schlag. wir sind nicht all-wissend. wir sind es nicht. auch jetzt nicht. all-eine wir sind besiegt. wir haben nichts gelernt. wer weiss, wenn die sterne wieder leuchten.
…
„ Ist das Gemüse in Ordnung, Tam?
„ Ja, alles ist gut. Ich habe den Regenschutz erneuert. Nächste Woche können wir vielleicht einen Blumenkohl essen. Stell dir das mal vor… Ich traue mich kaum, mich jetzt schon zu freuen.
„ Ja, das wäre schön. Ein Blumenkohl. Früher war das alles selbstverständlich.
„ Grossmutter, wie sind wir eigentlich hier aufs Land gekommen? Du hast doch früher in der Stadt gewohnt?
„ Ja, Tam, daran erinnerst du dich noch?
„ Nur so in Bildern. Da fuhr eine Strassenbahn…
„ Ja. So war das. Direkt vor dem Haus. … Als die Regierung bemerkt hat, dass jemand systematisch in die Bunker der Einzellungsgesellschaften einbrach, haben sie die Sicherheitsmassnahmen verschärft und wir hatten kaum noch Bewegungsspielraum. Sie überwachten alle, die sich irgendwie verdächtig machten. Darum bin ich mit dir aufs Land geflüchtet. Wenigstens können wir hier etwas Essen anpflanzen. Auch wenn das alles sehr, sehr schwierig ist.
„ Ja, es ist schwierig. Und man ist so auf sich selbst gestellt. Die Nachbarschaft funktioniert wirklich nur im Notfall. Jeder ist jedem verdächtig… Wieso ist das so, Grossmutter?
„ Das sind die Menschen. Früher war es anders. Aber nachdem die Gesellschaftsstrukturen zusammen gebrochen sind… Nichts mehr ist leicht. Und die Regierung war uns lange der grösste Feind. Ich war den Nachbarn immer schon verdächtig. Mit dem Generator. Und der Satellitenschüssel.
„ Aber die Regierung heute, die ist doch recht pragmatisch. Hast du immer gesagt?
„ Ja, die Regierung heute schon. Seit dem Wechsel zur gta ist es etwas besser geworden. Aber Menschen ändern sich nicht von heute auf morgen.
„ Die gta. Das steht für globale technokratische Administration. Ist sie wirklich global? Ist es wirklich überall so, wie hier bei uns?
„ Ja, Tam. Soweit ich weiss, ist es überall so. Die gta wurde eingesetzt, nachdem alle anderen Regierungen versagt haben. Und das hat genau etwas zu tun mit der globalen Sicht. Wenn man nicht mehr dort Essen produzieren kann, wo die Menschen leben, dann müssen die Menschen eben dahin gehen, wo das Essen ist. Und diese Ströme müssen irgendwie koordiniert werden. Denn mit dem Klima, wie es heute ist, gibt es mal da, mal dort essen. Darum haben wir auch die steten Flüchtlingsströme. Sie werden von der gta koordiniert. Und sie helfen auch uns, indem sie uns Wasser und die nötigsten Nahrungsmittel zur Verfügung stellen.
„ Und was sagt die gta zur Einzellung?
„ Die Einzellung ist Geschichte. Die gta kümmert sich nicht mehr darum. Es geht jetzt nur noch ums Überleben. Seit SIN-GL Ing. zusammengebrochen ist, kümmert sich niemand mehr um die Eingezellten.
„ Aber Noë…?
„ Die Aktivisten tun, was sie können. Das Problem ist, dass bei vielen Eingezellten das Hirn kaputt ist, so dass sie in der realen Welt gar nicht mehr überleben könnten. Du erinnerst dich an den Hypothalamus. Ein ehemaliger SIN-GL Ing.-Mitarbeiter hat den Aktivisten wertvolle Tipps gegeben. Es kam uns eine Idee…
„ Eine Idee, wie wir Noë befreien könnten?
„ Ja. Und zwar sollten wir langsam versuchen Kontakt aufzunehmen. Sie langsam an den Gedanken gewöhnen, dass sie sich in einer virtuellen Realität befindet. Und ausserdem darauf hoffen, dass ihr Gehirn keinen Totalschaden erlitten hat.
„ Du hast am Computer zu arbeiten angefangen…
„ Ja, genau. Eine andere ehemalige Mitarbeiterin von SIN-GL Ing. konnte uns etwas über das Programm von VR sagen. Ich habe es schliesslich geschafft, mich dort einzuhacken. Und ich habe vorsichtig angefangen, mit Noë Kontakt aufzunehmen. Ich habe ihr Nachrichten geschickt.
„ Aber sie hat dich nicht erkannt?
„ Ich durfte mich nicht zu erkennen geben. Ihr war das alles ja nicht bewusst. Und noch ein Problem hatte ich: Sie konnte am Anfang ja noch gar nicht lesen. Also musste ich sie Schritt für Schritt unterrichten. Ich habe ihr Lesen und Rechnen beigebracht. Das war schwierig, denn ich musste ja immer Acht geben, dass die Einzellungsgesellschaft mich nicht dabei ertappt, dass sie nichts merken.
„ Und Noë hat gedacht, dass diese Dinge einfach aus VR kommen?
„ Noë weiss ja nicht, dass sie sich in einer virtuellen Realität befindet. Und die Drogen haben ihre Konzentration und ihr Erinnerungsvermögen stark zurückgebunden. Ich glaube, sie haben ihr auch Drogen gegeben, damit sie sich glücklich und zufrieden fühlt. Damit sie gar nicht anfängt zu suchen nach anderen Welten. Nachdem sie lesen konnte, haben sie sie aber in eine komplexere Welt versetzt und spät noch einmal, als sie den Wunsch zu sozialem Austausch äusserte. Das war gut, es gab mir etwas Freiheit, ihr weiterhin Nachrichten zu schicken. Sie hat viel gelernt. Aber ich musste immer vorsichtig sein, nicht nur wegen SIN-GL Ing., auch, damit ich sie nicht mit der Wahrheit überfordere.
Immer, wenn ich ein neues Kapitel zum Utopia-Projekt veröffentliche, verschicke ich ein Benachrichtigungsmail. In der Seitenleiste links kann man sich dafür einschreiben.
Dieses Kapitel geht mit einem besonders herzlichen Gruss an Mario :-)
Hale-Bopp…
Eiskalt….
Früh, sehr früh….
;-)
Das waren noch Zeiten… da waren wir noch jung ;-)