utopia – 41: das astloch der zeit

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

wie lange schon, wie lange liege ich hier. starre an den immer gleichen punkt. die zeit scheint still gestanden. wie lange schon. und du? in stein gemeisselt, in holz gewachsen. vor langer zeit. astloch in der decke. gehst nie weg. und trotzdem frage ich mich, warst du schon immer da? habe ich schon einmal über dich nachgedacht? und mit was für einem ergebnis? meine gedanken kreisen, kreisen um immer dieselben fragen. kreisen immer wieder um dich. und darum, wie lange ich hier schon liege. wie lange ich schon über dich nachdenke. und über mich.

utopia schummrig, ©saschademarmels
utopia schummrig, ©saschademarmels

„ Grossmutter, bist du wach? Geht es dir besser? … Ich wollte nicht, dass du dich so aufregen musst. Aber … Was ist mit meinen Eltern?
„ Ach, Tam. Es war alles so schrecklich. Deine Eltern… Dass sie sich überhaupt haben einzellen lassen. Und Noë …

utopia astloch, ©saschademarmels
utopia astloch, ©saschademarmels


wo kommst du her? wo bist du einst gewachsen? und wo ist der ast, der hier an dem brett hing? ob er dir fehlt? ob ich ihn kannte? vielleicht verfeuert? aber nein, das ist nicht mein haus. das ist nicht meine holzdecke. wieso nur lässt du mich nicht los. astloch. wieso bist du in stein gemeisselt? woher kommst du? von was für einem baum? standest du einst hier draussen? meine gedanken kreisen und kommen nicht voran. immer um das astloch herum.

„ Sie wollten, dass ich mich auch einzellen lasse, dass wir ein friedliches Leben führen. Ich wusste, das Leo das nie könnte. Er hat sich so sehr für seine Anliegen eingesetzt. Er hätte das niemals einfach vergessen können. Aber es gab keinen anderen Ausweg. Sonst wären sie beide im Gefängnis gelandet.
„ Und wir, Noë und ich? Was wäre dann aus uns geworden?
„ Das ist es ja. Das ist es ja. Und darum haben sie sich dann entschlossen. Jara wollte erst nicht. Aber ihr wart eine Familie. Und ich, ich bin halt noch eine andere Generation. Ich wollte die Kontrolle über mein Leben behalten, soweit es eben ging.
„ Meine Eltern wollten keine Kontrolle?
„ Es waren andere Zeiten, Tam. Es waren andere Dinge wichtig. Und wenn du vor der Wahl stehst, als Volksverhetzer ins Gefängnis zu gehen und deine Familie nie mehr zu sehen…


vor dem fenster sehe ich den wind. wie er die tanne in mein blickfeld weht. und sie zurück federt. ob aus ihr mal eine holzdecke entsteht? ob sie sich je erholt. und weiter wächst. oder morsch wird und zerfällt. hatte sie immer schon diese gelbliche farbe? oder ist das grün? vielleicht ist meine erinnerung falsch. vielleicht… wie sehen farben aus? kann ich messen, was ich jetzt sehe im vergleich zu was ich früher gesehen habe? aber die welt hat sich verändert. die farben haben sich verändert. die tanne hat sich verändert. und ich sehe nur immer denselben teil vom wipfel, nie die ganze tanne. vielleicht ist sie unten grüner? oder brauner? oder oranger? wie müsste eine tanne aussehen? gibt es eine richtige tanne?

utopia holzdecke, ©saschademarmels
utopia holzdecke, ©saschademarmels

„ Das Gebäude mit den grauen, kahlen Wänden und diese fremde Frau an die du dich erinnerst: Das war die Einzellung. Ihr seid dahin gefahren. Ich wollte mitgehen, dann doch nicht. Zu schwer fiel mir der Abschied. Und dann bin ich doch gegangen, habe vor dem Gebäude gewartet. Es hat mir fast das Herz gebrochen. … Ich habe auf dem Parkplatz vor dem Gebäude gewartet. Gewartet auf ein Zeichen. Dass ich mich einzellen lassen soll. Oder eigentlich habe ich gewartet, dass ihr wieder raus kommt. Dass sich alles irgendwie gefügt hat und alles wieder gut wird.
„ Und dann? Was ist passiert? Etwas muss passiert sein. Warum bin ich hier und die anderen nicht?
„ Dann hat mein Telefon geklingelt und die Einzellungsgesellschaft hat mich gebeten, sofort zu kommen. Jara hatte mich als Notfall-Kontakt angegeben. Ich wurde reingebeten und konnte durch eine Scheibe deine Eltern sehen, sie lagen auf den Einzellungssesseln. Noë war auch da, aber du nicht. Sie führten mich in ein anderes Zimmer, da lagst du in Schock auf einer Bare und hast gezittert und warst nicht ansprechbar.
„ Ich kann mich erinnern, dass ich mal in einem solchen kalten Raum gelegen bin und alles in mir gezittert hat… Und dann bis du gekommen und hast mich fest in die Arme genommen. Und du hast geweint.
„ Ja, so war das. Sie haben gesagt, du hättest die Medikamente nicht vertragen, die alle erhalten, wenn sie eingezellt werden. Der Körper braucht sie, um sich an die virtuelle Realität zu gewöhnen. Bei dir ist etwas schief gelaufen. Sie hatten einen solchen Fall noch nie, haben sie gesagt.
„ Und dann, haben sie nicht meine Eltern geholt?
„ Sie sagten, in der ersten Eingliederung sei das nicht möglich. Deine Eltern seien noch nicht in der VR angekommen und darum musste ich entscheiden, was jetzt passieren sollte. Ich habe dich gepackt und das Gebäude verlassen. Und seither lebst du bei mir.
„ Aber später, was haben meine Eltern dazu gesagt? Hast du denn etwa nie mit ihnen darüber gesprochen? Sie müssen doch gemerkt haben, dass ich nicht da war! Wieso haben sie mich einfach alleine gelassen?


kalt, grau, kahl, kühl, leer, ätzend. wie war das damals? ich habe mich nicht wohl gefühlt. ich hätte etwas steriles erwartet. da hätte ich mich auch nicht wohl gefühlt. aber es kam etwas so kaltes. so abweisend. wer ging da freiwillig hin? von einer nackten verzweiflung in die nächste? oder war es gar nicht so? was hat meine erinnerung mit meinen erinnerungen gemacht? wie habe ich überlebt? wie bin ich da nur wieder raus gekommen? wie konnte ich das nur vergessen? eine kälte bis in mark und bein. durch und durch. es war so grau, unendlich grau. grauer hätte es nicht sein können. ihre gesichter waren grau. und kalt. wie ich wohl ausgesehen habe? vielleicht wird man grau, wenn man durch diese türe schreitet? wieso nur.

„ Es tut mir leid, Grossmutter. Ich habe es nicht böse gemeint. Sie haben mich nicht alleine gelassen. Ich war bei dir. Du warst bei mir. Und du hast gut zu mir geschaut. Es tut mir leid, hörst du?
„ Ach, Tam… Es ist alles so schrecklich.
„ Hast du ihnen gesagt, dass du mich aufgenommen hast?
„ Ich habe versucht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Aber es wollte mir einfach nicht gelingen. Es herrschte Funkstille. Erst hatte ich Gewissensbisse und dachte, Leon wollte nicht mehr mit mir reden, weil ich dich aus der Einzellung geholt habe. Aber ich konnte ja nichts dafür. Und dass Jara auch den Kontakt einfach abbrechen wollte, das konnte ich mir nicht vorstellen.
„ Wie geht das denn überhaupt, Kontakt aufnehmen? Ich meine, sie sind ja eingezellt?
„ SIN-GL Ing. hat versprochen, dass man auch über die Welten hinweg in Kontakt bleiben kann, über Nachrichten und Telefonanrufe. Und eigentlich hatten sie auch angekündigt, dass man aus der VR aussteigen und sich in der realen Welt mit jemandem treffen kann. Aber dann…
„ Was ist passiert?
„ Die Kontaktaufnahme hat nicht geklappt und schliesslich habe ich SIN-GL Ing. besucht und gefragt, was da eigentlich los ist. Sie haben mich abgewimmelt und gesagt, sie seien nicht berechtigt, mir Auskunft zu geben. Selbst als ich erklärt habe, dass ich ja jetzt dich, den Sohn meiner Tochter und meines Schwiegersohns, bei mir habe und dass ich sie doch informieren muss, wollten sie mir nichts weiteres sagen oder mir helfen, deine Eltern zu erreichen. …
„ Und dann? Was ist dann passiert?
„ Ich habe angefangen, selber zu recherchieren. Tam, ach Tam, … Es ist alles so elendiglich. Es ist alles so schrecklich schrecklich. …


plötzlich alleine. ganz alleine. niemand weit und breit. wie in einem weiten feld. es wird zur wüste. unendlich, nach allen seiten. unbezwingbar. und ich mitten drin. alleine. wie auf hoher see. auf einer nussschale. mit einem schwimmgurt. ich klammere mich an ihn. lass ihn nicht los. lass ihn ja nicht los. und dann sitze ich im sand, die sonne brennt, noch immer klammere ich mich an den schwimmgurt. wie soll ich hier nur raus kommen? wie soll ich nur. plötzlich auf einem hohen berg. mitten im gebirge. ich klettere auf die spitze. ich schaue um mich. rund um mich nichts als berge. berg an berg. fels an fels. zackige kanten. kein entkommen. bis eine welle kommt, mich wegspült. ich klammere mich an den schwimmgurt. er ist aus stein. zerrt mich herunter, ich huste, liege mit dem gesicht im sand. ich stehe auf, gehe durch eine pforte, in einen irrgarten, ein labyrinth. immer weiter, immer weiter. die welle kommt, spült mich wieder auf die bergspitze. ein sandsturm. immer weiter, immer weiter.

„ Ich habe herausgefunden, dass die Einzellungsgesellschaft falsche Informationen herausgegeben hat. Viele falsche Informationen. Die Einzellungstechnologie war noch gar nicht einsatzbereit. Und schon gar nicht für die riesige Nachfrage, die auf einmal herrschte. Nichts war echt, nichts stimmte, was sie in Hochglanz beworben hatten. Und die Technologie war nicht sicher. Viele Menschen starben, bevor ihr Bewusstsein noch die VR erreicht hatte.
„ Grossmutter?
„ Tam, deine Eltern sind bei der Einzellung gestorben. Es tut mir so leid. Es tut mir so unendlich leid.

utopia astlochzeit, ©saschademarmels
utopia astlochzeit, ©saschademarmels


das astloch tickt. es ist alles, was nach dem sandsturm übrig bleibt. und meine gedanken kreisen immer noch. rund und rund und rund. immer um das astloch herum.

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