utopia — 40: elemente duellieren sich

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

wellenartige geräusche, rollen an, werden immer stärker, reissend, und reissen dann ab. stille. dann rollen wie wieder heran. manchmal knallt es oder es rattert, wenn etwas mit dem wind mitgerissen, sich über den boden bewegt oder der hauswand entlang. knistern, wenn die blätter der bäume aneinander reiben.

ein dumpfes rauschen im schornstein. ein pfeiffen im fenster. das klappern eines ladens. ein schmatzen im rauchabzug. und immer wieder ein helles klirren, ein schaben und knistern, knacken, rattern, schlagen, knallen.

der wind, der mir zeigt, dass die welt noch nicht ganz still geworden ist, dass sich zumindest noch bewegt, was er in fahrt bringt. dass ich nicht alleine bin, hier, in diesem zimmer, umgeben von holz, das knackt und von glas, das klirrt. umgeben von bäumen, die rauschen, knistern, knacken. umgeben von

utopia tanne, ©saschademarmels
utopia tanne, ©saschademarmels

„ Es geht dir heute etwas besser, Grossmutter. Nicht wahr?
„ Ja, Tam, es geht mir schon viel besser. Es tut mir leid, dass ich dir solche Umstände mache. Ich sollte doch auf dich aufpassen, nicht umgekehrt.
„ Aber Grossmutter! Du hast so lange für mich gesorgt, jetzt bin ich mal an der Reihe.
„ Tam, ich weiss, ich darf noch nicht aufstehen, aber ich muss dir etwas sagen. Es ist wichtig. Es geht um Noë.
„ Grossmutter, ich habe ein schlechtes Gewissen… Wieso bin ich hier und Noë nicht? Wieso durfte ich bei dir aufwachsen und sie nicht? Ich glaube, es war mein Fehler. Bin ich schuld?
„ Nein, Tam, das darfst du nicht denken. Du kannst gar nichts dafür. Ihr wart noch so klein. Ihr hattet beide überhaupt keine Schuld. Im Gegenteil, ich bin schuld daran. Und es tut mir unendlich leid. Ich hätte euch nie trennen dürfen. Ich hätte… Ich wollte doch nur… Es war schrecklich. Es war alles einfach nur sehr, sehr schrecklich. Tam, ich habe es nie böse gemeint. Ich hatte nur das Beste im Sinn. Und das Beste war…
„ Grossmutter, willst du dich etwas ausruhen? Schlaf doch noch etwas.
„ Nein, Tam. Das ist wichtig. Ich möchte, dass du alles weisst. Dass du weisst, was damals genau passiert ist. Ich möchte, dass du weisst, warum du hier bist und Noë nicht. Und dass niemand Schuld war. Es ist wichtig.
„ Du sollst ruhig liegen, Grossmutter. Du darfst dich nicht aufregen, damit du schnell wieder gesund wirst.
„ Noë’s Leben steht vielleicht auf dem Spiel, Tam. Ich muss dir das jetzt erzählen. Alles hat eigentlich damit angefangen, dass deine Mutter deinen Vater kennen gelernt hat. Nein, vielleicht war es auch schon früher. Vielleicht hat es angefangen, als dein Grossvater immer zu deiner Mutter gesagt hat „Jara, mein Diamant!“. Sie war damals noch ganz klein. Aber als er gestorben ist, damals, in dem grossen Sturm, da hat sie sich später noch immer an diesen Satz erinnert. Und als sie grösser war, hat sie mich gefragt, wieso er das immer wieder gesagt hat.
„ Wieso, Grossmutter?
„ Er dachte dabei an Jared Diamond. Das war in den 1990er Jahren. Und er las viel über die Probleme der Welt. Über Kybernetik und eben auch von Diamond. Und er hatte grosse Hoffnungen für Jara. Die hat sie dann ja auch erfüllt, nur durfte er das nicht erleben. Aber dann… Wer weiss, welche Wege sie eingeschlagen hätte, wenn er nicht Lothar zum Opfer gefallen wäre.
„ Und wie hat sie dann Vater kennen gelernt?
„ Sie hat angefangen, Landschaftsfotografien zu machen und die aktuellen Bilder zu vergleichen mit alten Bildern derselben Orte. Sie war bei Jared Diamond auf die Idee gekommen. Er hatte beschrieben, wie die Menschen sich plötzlich nicht mehr erinnern können, wie eine Landschaft früher ausgesehen hat. Und sie merken darum nicht, wie sich die Umwelt verändert. Er nannte das „creeping normalcy in changing landscapes“ oder so etwas. Und später glaub ich dann „landscape amnesia“.
„ Sie war Fotografin? Ich kann mich erinnern, dass immer viele Fotos herumlagen. Hast du auch Fotos von ihr aufbewahrt?
„ Erinnerst du dich an die Mappe mit den Bildern der Gletscher? Die sind von ihr.
„ Ja, ich erinnere mich. Wieso hast du mir nie erzählt, dass diese Bilder von meiner Mutter sind?
„ Ach, Tam. Ich wollte dich schützen. Ich fand, die Welt war schrecklich genug geworden. Ich wollte dich nicht dauernd an deine Eltern und deine Schwester erinnern.
„ Aber Grossmutter…
„ Kannst du dich denn an sie erinnern?
„ Vage, vielleicht. Ich meine, es ist schwierig. Sind es wirklich Erinnerungen? Es sind mehr so Bruchstücke. Einzelne Bilder.
„ Vielleicht erinnert sie sich dann auch an uns?
„ Ja, vielleicht. Vielleicht muss sie diese Bilder auch einfach nur finden.


leise, sachte, erste tropfen. weich treffen sie auf, sind ganz rund, voll und doch so flexibel. machen kaum geräusche. dann wird er heftiger, lauter, schneller. es prasselt, beinahe schon laut, stechend, hackend.

erinnerung an einen duft nach erde und sommer, nach wasser und pflanzen. ich weiss, er ist nicht mehr da. meine sinne noch immer getrimmt darauf, dass auf so ein geräusch dieser bestimmte duft folgen muss. wehmut. mehr als notalgie.

wasser des lebens, wasser des todes. wasser des regens. spülst all das gift aus unserer luft. dass wir wieder atmen können. spülst es auf unsere felder und gärten. atmen und verhungern. essen und sterben. leben und tod.

„ Schläfst du, Grossmutter?
„ Nein, Tam. Ich denke nur nach.
„ Wie ist es weitergegangen mit Mutter und Vater? Wie haben sie sich kennen gelernt?
„ Sie haben sich an einem Kongress zur Umweltpolitik kennen gelernt. Deine Mutter konnte dort ihre Bilder ausstellen. Dein Vater fand das einen sehr interessanten Ansatz. Er hat sie gefragt, ob sie für ihn arbeiten wollte. Sein Unternehmen hiess ecocyb. Ziel war es, globale Zusammenhänge aufzuzeigen und Probleme ganzheitlich anzupacken. Der Ansatz der landscape amnesia gefiel ihm gut. So lernten sie sich kennen. Sie hat viel von ihm erzählt. Und irgendwann haben sie sich dann wohl verliebt.
„ Du scheinst dich darüber nicht gefreut zu haben? Vater müsste dir doch eigentlich gefallen haben?
„ Ach, Tam… Leon… Dein Vater… er war so voller Elan. Er hatte viel zu viel Energie und Engagement für die Welt, wie sie damals war. Niemand hatte auf jemanden gewartet, der erklärt, wie man die Probleme lösen könnte. Die Politik wollte damals noch nicht einmal die Probleme sehen. Er war so ungestüm…
„ Da war noch etwas anderes, oder, Grossmutter?
„ Jara hat ihn über alles geliebt. Und ich habe mir Sorgen gemacht. Ich habe deinen Grossvater über alles geliebt. Und dann ist er gestorben. Und ich war alleine. Mit Jara. Und ich habe mich gefragt, wieso er sich mehr für andere eingesetzt hat, als sich um uns zu kümmern.
„ Aber das hatte er doch nicht geplant…
„ Nein, Tam. Aber es war eben seine Haltung. Helfe den Leuten in Not, und denke erst danach darüber nach, was das für dich selber und deine Liebsten für Konsequenzen haben könnte. Und da war es dann auch zu spät.
„ Aber er hat euch doch sicher auch geliebt?
„ Ja, Tam. Das hat er. Aber trotzdem war er nicht mehr da. Und ich wollte Jara vor diesem Schicksal bewahren. Ich wollte nicht, dass sie zum zweiten Mal eine wichtige Person aus ihrem Leben verliert, weil diese Person keine Rücksicht nimmt.
„ Aber da war es zu spät und die beiden waren schon verliebt?
„ Ja, das waren sie. Und Leon konnte sich nicht entscheiden, ob ihm eine Familie wichtiger war oder die Welt zu retten. Und es war klar, dass es so nicht gut kommt.
„ Habt ihr gestritten?
„ Nein, gestritten nicht. Nicht oft. Ich glaube nicht. Ich versuchte, mich zurückzuhalten. Jara zu liebe. Aber ich habe missbilligt, dass er immer politischer und aggressiver wurde. Und dann…
„ Ja, Grossmutter? Was ist dann passiert?
„ Die Politik hat es nicht mehr ausgehalten mit ihm. Er hatte brisante Informationen zum Klima publiziert. Und er hat immer und immer wieder die Regierungen der Welt angeklagt, weil sie nicht richtig auf die Probleme eingingen. Er hat argumentiert, dass Probleme immer nur dort bekämpft werden, wo sie auftreten. Meist sogar nur die Symptome. Statt die Wurzeln. Und dass die Politik keinen gesamtheitlichen Blick hat. Dass es auch noch eine Zeitverzögerung geben wird. … Ach, die hat er dann ja gar nicht mehr erlebt.
„ Er hatte Recht und wusste es gar nicht?
„ Oh, er wusste, dass er Recht hatte. Aber die wahren Auswirkungen… Ach, Tam…
„ Ruh dich ein bisschen aus, Grossmutter. Ich wärme dir eine Kartoffelsuppe.


nichts mehr bist du, als ein kümmerlicher schatten deiner selbst. kommst nicht mehr durch zu uns. stark gefiltert, deine wärme, deine kraft. dein goldenes licht erloschen. milchig bescheinst du uns, machst den staub um deine strahlen tanzen.

oh könnt ich nur, dir etwas von der kraft geben, die du mir früher gebracht hast. oh könnte ich nur, ich würde es tun. dein ersticken tut mir weh.

doch weiss ich auch, du bist noch da, nur nicht hier unten bei mir. nicht hier auf dem boden der erde. wo alle anderen elemente miteinander bekämpfen. der regen hilft dir, spült die luft, ich hoffe, ich werde dich noch einmal sehen.

„ Danke Tam, jetzt fühle ich mich gestärkt. Läuft denn der Generator noch? Es ist wichtig…
„ Ja, Grossmutter, der Generator läuft noch. Und das Gemüse ist sicher. Morgen gibt es vielleicht eine Karotte. Unsere Nachbarn haben gestern schon geerntet, aber die Karotten waren noch sehr gelb. Vielleicht haben sie auch etwas Regen abbekommen?
„ Früher… ach, Tam. Es ist alles so schrecklich…
„ Nein, Grossmutter. Wir haben uns…
„ Ja, Tam. Aber deine Schwester…
„ Es kommt alles gut. Grossmutter…
„ Ja, Tam? Was ist?
„ Ach, nichts. Was ist mit Vater passiert? Als die Umwelt kollabiert ist?
„ Die Umwelt ist erst sehr viel später kollabiert. Er hat das vorausgesehen, aber niemand hat ihm geglaubt. Es hätte auch nichts genutzt.
„ Wieso haben sie ihm nicht geglaubt?
„ Man nannte das damals „Dichtestress“. Die Welt ist in so kurzer Zeit so komplex geworden, dass die Menschen nicht mehr damit klar gekommen sind. Sie haben nur noch das wahrgenommen, was sie irgendwie verarbeiten konnten. Leon hat die Politik angeklagt, dass sie mit der Komplexität überfordert war und dass sie die Augen vor den wahren Problemen verschliesse. Sie hat sich auf das lineare Denken zurück gezogen und alles ausgeblendet, was mit Vernetzung zu tun hatte. Denn dadurch wäre das Ausmass der Probleme noch viel deutlicher geworden.
„ Und sie haben doch nichts gemacht?
„ Doch. Sie haben ihn mundtot gemacht. In so einer Situation braucht es Fingerspitzengefühl. Aber Leon ist reingeschossen. Natürlich hatte er gedacht, dass doch mindestens die Politik irgendwie mit der Komplexität zurecht kommen muss. Er hat ja nicht auf die Bevölkerung gezielt. Er hat nach Menschen gesucht, welche die Komplexität begreifen. Aber er war erfolglos. Und dann hat er halt doch angefangen, breitflächig nach Verbündeten zu suchen.
„ Und das hat auch nichts geändert?
„ Das hat alles verändert, Tam.
„ Grossmutter? Brauchst du etwas Ruhe?
„ Sie haben ihn der Volksverhetzung angeklagt. Sie haben ihn festgenommen. Und deine Mutter auch. Und noch weitere Mitarbeitende von ecocyb. Sie wollten sie aus dem Verkehr ziehen.
„ Meine Eltern waren im Gefängnis? Ich habe ein Bild vor mir, von einem grossen Gebäude. Kahle, graue Wände. Und dann hat mich eine fremde Frau an der Hand genommen…
„ Das war nicht ein Gefängnis. Das war das Gebäude von SIN-GL Ing. Die Regierung hat deinen Eltern ein Angebot gemacht: Wenn sie sich einzellen lassen, dann können sie weiter mit ihrer Familie leben. Unter der Voraussetzung, dass dein Vater nicht mehr versucht, die Bevölkerung gegen die Regierung aufzuhetzen.
„ Und darauf haben sie sich einfach eingelassen?
„ Einfach war es nicht. Da hatten wir wirklich einen grossen Streit. Sie hatten keine grossen Wahlmöglichkeiten: Sie wären sonst beide ins Gefängnis gekommen. Und sie haben auch argumentiert, dass die Umweltbedingungen immer schlimmer werden. Sie wollten euch beiden eine bessere Zukunft bieten.
„ Grossmutter…
„ Deine Mutter wollte, dass ich mitgehe. Ich habe mich geweigert. Ich habe sogar angeboten, euch beide bei mir aufzunehmen. Aber das wollten sie natürlich nicht. Sie haben euch sehr geliebt.
„ Meine Eltern leben? Sie sind eingezellt?
„ Ach, Tam…

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