[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]
Noë steht in einem wunderbar ruhigen, beruhigenden Garten. Um sie herum ist es grün und bunt. Ein Meer von Rosen rankt sich um Gitter und Gatter und an anderen Pflanzen hoch. Und es duftet sanft. Sie spitzt die Ohren und hört Vögel zwitschern und irgendwo plätschert Wasser. Es riecht frisch und so fühlt sie sich auch: Erfrischt und ruhig und entspannt.
Zwischen den Pflanzen liegen weiche Wiesen und Moosmatten. Das Sonnenlicht scheint sanft und trotzdem spürt sie die Kraft der Sonnenenergie. Sie fühlt den Schatten auf ihrer Haut tanzen. Langsam schlendert sie auf dem Kiesweg entlang und lauscht dem Knirschen ihrer Schritte. Und den Vögeln. Und dem Rascheln in den Zweigen. Und dem feinen Wasserrauschen. Sie ist zufrieden, erfüllt von einer tiefen Ruhe. Sie atmet regelmässig und tief, atmet die Ruhe ein, die Frische, die Entspannung und merkt, wie sich diese in all ihren Gliedern ausbreitet. Es ist ihr, als werde sie von der Umgebung richtiggehend umarmt, gestreichelt, beruhigt. Als habe dieser Garten auf sie gewartet, als möchte er sie beruhigen und beschützen.
Sie fühlt sich langsam müde und schwer und als sie um eine Wegbiegung kommt, steht vor ihr eine Bank. Sie setzt sich, streckt ihre Beine von sich und lehnt sich zufrieden an die Rückenlehne. Sie schliesst die Augen, lauscht ganz intensiv den Geräuschen. Dann öffnet sie die Augen wieder, blickt hinauf und sieht durch das Blätterdach den blauen Himmel glänzen. Sie atmet bewusst und wohlig den süssen Duft der Rosen ein und in ihr formt sich die Lust nach etwas Süssem, einem Getränk, das sowohl etwas herb schmeckt wie auch süss, das erfrischt in dieser sommerlichen Umgebung. Sie weiss nicht, worauf sie da genau Lust hat, aber sie weiss, wie dieses Getränkt schmeckt, an der Zungenspitze süss, an den Zungenrändern herb und beruhigend und im Hals dann erfrischend. Kühl würde sie es verspüren, wenn es die Speiseröhre hinunterrinnt. Sie hat es noch nie getrunken, jedenfalls kann sie sich nicht erinnern. Aber es scheint ihr, sie erinnert sich an den Geschmack, an das Gefühl.
Als sie aufblickt, sieht sie, wie jemand auf sie zukommt. Ein junger Mann mit einem kleinen Wagen. Darauf stapeln sich Gläser und eine grosse Schüssel mit einer Kelle. Der Mann geht auf sie zu, begrüsst sie freundlich und fragt sie, ob er ihr etwas Holundersirup anbieten dürfen. Die beste Erfrischung, die man sich hier vorstellen kann. Noë kann es gar nicht fassen und nickt nur stumm. Fassungslos guckt sie, wie der Mann mit der Kelle Sirup in ein Glas giesst und es ihr überreicht. Gierig trinkt sie und sie wird nicht enttäuscht: Der Sirup schmeckt süss an der Zungenspitze, herb an den Seitenrändern der Zunge und erfrischend, als er die Speiseröhre hinunterrinnt. Noë kommen fast die Tränen. Der Mann nickt ihr zu und schiebt seinen Wagen weiter und Noë, die sich so sehr gewünscht hat, endlich andere Menschen zu treffen, bleibt sprachlos zurück und klammert sich an ihr Glas.
Schliesslich setzt sie sich wieder zufrieden auf die Bank. Sie blickt um sich, beobachtet die Vögel, die sich singend auf den Ästen der Sträucher wiegen und versucht die Farben aufzuzählen, in denen die Rosen blühen. Da sieht sie, wie sich unweit von ihren Füssen das Gras bewegt. Erstaunt beobachtet sie den Boden und erwartungsvoll kann sie die Augen gar nicht mehr vom Grasbüschel nehmen. Da bricht die Erde plötzlich auf und heraus kommt ein kleines Tier mit winzigen Augen. Ein Maulwurf, denkt Noë. Und die Geschichte vom kleinen Maulwurf fällt ihr ein, der Maulwurf, der Angst hat vor dem Milchmann. Das muss eine Geschichte aus ihrer Kindheit sein. Sie kann sie nicht mehr richtig einordnen. Aber der Anblick dieses kleinen Tiers beglückt sie und sie lächelt. Der Maulwurf selber wird in diesem Augenblick von einem Sonnenstrahl erfasst und das scheint ihm irgendwie nicht so zu behagen und schnell verschwindet er wieder in der Erde. Noë lacht spontan auf.
Ein Stück weiter weg tauchen auf der Wiese ein paar Kinder auf. Sie spielen mit einem Ball. Noë guckt ihnen zu, denkt an die Geschichte von Alice und Luis, auch sie muss aus ihrer Kindheit stammen. Und dann denkt sie an ihren Luis und fragt sich, ob es ihm gut geht, ob es ihn überhaupt gibt. Und dann hört sie wieder den Vögeln zu und dem Kindergeschrei von der Wiese. Und sie atmet die süsse Luft ein. Und sie lässt sich die Arme von der Sonne wärmen. Still und in völliger Ruhe und bei sich selber. Eine Frau geht an ihr vorüber, grüsst sie freundlich und setzt sich ein Stück weit entfernt auf eine Bank. Sie zieht ein Buch aus der Tasche und beginnt zu lesen. Noë denkt an ihre Zeitung mit dem goldenen Schimmer und an den Gedichtband, der sich wohl mit samt der Wohnung in Luft aufgelöst hat. Sie atmet ruhig und sanft und schaut dem Schatten bei seiner Wanderung durch den Garten zu.
Sie weiss nicht, wie lange sie da gesessen hat, ganz ruhig und in sich selber oder in den Garten versunken. Als sie wieder zu sich findet, sieht sie einen Mann auf sich zu kommen. Er scheint etwa in ihrem Alter zu sein. Er guckt freundlich und sie lächelt ihm zu. Er nähert sich und und bleibt dann vor der Bank stehen. „Du musst Noë sein. Hallo! Ich bin Mat.“
Noë schaut den Mann etwas verwirrt an. Wieso weiss er, wer sie ist. Sie ist sich ziemlich sicher, dass sie ihm noch nie begegnet ist. Trotzdem lächelt sie ihm weiter zu: Endlich findet sie andere Menschen zum reden und sich austauschen. „Hallo. Ja, ich bin Noë! Woher kennst du mich denn?“
„Schön, dich endlich wieder … Schön dich endlich kennen zu lernen. Ich habe das Gefühl, ich kenne dich seit meiner Kindheit. … Wie eine Erinnerung, weisst du?“ Noë betrachtet den Mann. Er wirkt auf sie sehr ruhig, strahlt eine gewisse Geborgenheit aus. Und wenn sie es sich richtig überlegt, ja, dann könnte es ebenso gut sein, dass sie ihn schon ihr Leben lang kennt. Sie lächelt wieder und ist so überwältigt, dass sie gar keine Worte finden kann. Er lächelt auch.
„Darf ich mich zu dir setzen? Ich würde gerne erfahren, wie es dir so geht. Was du so erlebt hast.“ Noë zögert, nicht weil sie sich Mat nicht anvertrauen möchte. Aber weil sie nicht recht weiss, was sie ihm erzählen soll. Irgendwie sind alle ihre Gedanken wie weggeblasen. „Ja, klar, setz dich doch.“
Noë überlegt. Was kann sie ihm erzählen? Sie kennt ihn ja nicht. Aber irgendwie scheinen sie doch auch miteinander verbunden zu sein. Sie fühlt es, irgendwie. Und dieses Gefühl nimmt sie ganz ein.
„Es ist seltsam, es fühlt sich an, wie wenn wir uns ewig kennen würden, nicht?“ Noë nickt, ja, er hat recht. Er spricht aus, was sie denkt. Sie räuspert sich, weiss aber wirklich nicht, was sie sagen sollte. Da wiederholt Mat seine Bitte: „Ich würde gerne wissen, wie es dir so geht. Was hast du denn so erlebt?“ Noë reisst sich zusammen: Wenn er sie so nett fragt, dann interessiert er sich sicherlich wirklich für sie. Sie kann ja mal versuchen, ihm ihre Situation zu schildern. „Also, ich wohne hier irgendwo in einem Zimmer in diesem Gebäude. Aber vorher hatte ich eine Wohnung in der Stadt.“
„Aber dort gefällt es dir nicht mehr? Oder gehst du zwischen den beiden Orten hin und her?“ Noë lächelt gequält. Das ist ja alles etwas kompliziert. „Also, die Stadt hat sich irgendwie aufgelöst. Ich glaube, es war nur eine virtuelle Realität.“
Mat blickt sie erschrocken an. Dann fragt er zögerlicher: „Eine virtuelle Realität? Einbildung oder so etwas? Und wie meinst du das, aufgelöst?“ Er sieht immer noch sehr erschrocken aus, beunruhigt irgendwie. Noë versucht ihm zuzulächeln um ihn zu beruhigen. „Als ich die letzten Male da war, begannen die Häuser und Strassen irgendwie zu zerfallen. Alles ging immer mehr kaputt. Und es hat ganz entsetzlich zu stinken angefangen, ich konnte kaum mehr atmen. Und das letzte Mal zerfiel dann alles zu Staub und es war einfach irgendwie nichts mehr da, es ist schwierig zu beschreiben.“ Ihre Ausführungen scheinen Mat nicht zu beruhigen, eher noch mehr zu verunsichern.
„Zerfielen zu Staub? Und der Geruch, wie war der? Wie wenn etwas verbrennt? Oder wie wenn etwas verwest?“ Er ist ganz ausser sich und wirkt höchst alarmiert. Noë versucht seine Aufregung einzuordnen. Vielleicht kennt Mat die Stadt. Vielleicht hat er auch einmal da gewohnt. Oder vielleicht kennt er andere Menschen, die dort wohnen. „Kennst du vielleicht Luis?“ Fragt sie ihn und ist sogleich erschrocken über diese Frage. Mat schüttelt den Kopf. „Er ist schon älter, ein sehr netter Mensch. Er kocht und backt gerne. Und er liest gerne Texte über Technologien.“ Mat schüttelt immer noch den Kopf.
„Dieser Geruch, kannst du ihn vielleicht etwas genauer beschreiben?“ Noë ist verwirrt. Die Frage scheint ihr so technisch, mechanisch. Der Geruch ist ihr überhaupt nicht wichtig. Zumal er so schlecht war. Sie mag sich gar nicht daran erinnern, sie hat Angst, dass ihr dann vielleicht sogar schlecht wird. Trotzdem versucht sie es: „Er war, vielleicht, also. Es war sehr unangenehm. Es roch, also, es wurde mir fast etwas übel. Es war ein eher süsslicher Geruch, aber er war auch etwas fahl. Alt vielleicht? Ungesund, irgendwie.“ Mat schaut sie sehr besorgt an. Besorgt und nachdenklich. Er runzelt die Stirn.
Noë möchte ihn beruhigen. „Aber ich bin ja nicht mehr da. Ich habe mich rausgezwinkert und bin jetzt hier. Und es geht mir gut! Und ich kann den Geruch jetzt auch nicht mehr riechen.“ Sie lächelt Mat noch einmal bekräftigend zu. Und dann wird auch ihr Gesicht wieder nachdenklich. Sie denkt noch einmal an Luis und fragt sich, wo er wohl ist und ob er sie vermisst. Und ob er sie vielleicht sucht.
Mat schnauft hörbar auf, fährt sich mit der Hand übers Gesicht und als er sie wieder senkt, sieht er wieder entspannter aus. Er lächelt ihr zu und fragt sie, ob sie vielleicht ein bisschen spazieren möchte. Sie nickt und zusammen gehen sie sich den Kiesweg entlang, an den herrlich duftenden Rosenbüschen vorbei, begleitet vom Vogelgezwitscher.
Noë fragt Mat, was das denn für ein wundervoller Ort ist. Sie hat ihn zuvor noch nie gesehen und hat nicht geahnt, dass es so etwas schönes in einem Gebäude geben kann. Mat nickt stolz und sagt, das sei der Rosengarten. Er biete Zuflucht, wenn es einem in der Welt zuviel werde. Hier könne man sich erholen. Ob es ihr gefalle. Noë nickt.
Sie zögert, dann fragt sie ihn, ob er viele Menschen kennt im Gebäude. Mat zuckt die Schultern. Nicht so viele. Luis kenne er nicht, gibt er dann auch gleich zu. Noë fragt aber weiter, ob er weiss, ob es auch Flüchtlinge gibt, im Gebäude. Mat schüttelt den Kopf. Er fragt sie aber, was sie denn von den Flüchtlingen weiss.
Noë erzählt ihm von der Klimaerwärmung und dass viele Orte auf der Welt nicht mehr bewohnt werden können. Und dass es keine Bäume mehr gibt. Und dass sich Krankheiten verbreiten, weil die Menschen rund um die Welt reisen. Und dass es Menschen gibt, die nicht mehr da leben können, wo sie eigentlich zu Hause sind und darum machen sie sich auf die Flucht und es ist gefährlich und manche sterben und andere kommen zwar am Ziel an, werden aber wieder nach Hause geschickt und dann machen sie sich von neuem auf. Mat nickt.
Nach einer Weile sagt er ernst, er glaube, die Flüchtlinge leben nicht im Gebäude hier, aber in den Hütten unten. Und vielleicht sollte Noë sie mal besuchen gehen. Noë macht grosse Augen. Vielleicht kann sie endlich mal diese Flüchtlinge kennen lernen. Sie kann sie persönlich fragen, woher sie kommen und wie es ihnen geht.
Dann hält Mat plötzlich inne. „Ich muss jetzt leider gehen. Aber es hat mich sehr gefreut, dich endlich zu sehen. Wir treffen uns bald wieder.“ Noë ist etwas verblüfft über das abrupte Ender des Gesprächs, nickt aber.
„Du bist also öfters hier, ja?“ Fragt sie und malt sich aus, dass sie ab jetzt immer in diesem Rosengarten sein möchte. Mat nickt und weist mit dem Kinn in eine Richtung. Noë wendet ihren Kopf und sieht das Eingangstor. Mat schubst sie nun auf das Tor zu und Noë bleibt nichts anderes übrig, als hinauszutreten.
„Bis zum nächsten Mal.“ sagt sie noch. Dann schliesst sich das Tor hinter ihr und sie steht wieder in den Fluren des Gebäudes. Und jetzt fällt ihr ein, wie lange sie gegangen ist, bis sie hier landete. Und sie merkt, dass sie weder die Kraft noch Lust hat, zurück zu ihrem Zimmer zu gehen. Aber das Tor lässt sich nicht mehr öffnen und als sie durch die Gitterstäbe späht, liegt der Rosengarten in tiefer Dunkelheit. Sie kann nichts mehr von seiner Pracht erkennen.
Etwas missmutig macht sie sich auf, den Flur entlang. Sie hat keine Ahnung, wo ihr Zimmer ist. Sie läuft in eine beliebige Richtung los, wendet sich am Ende nach links und bei der nächsten Gabelung nach rechts und steht plötzlich im weinroten Flur, der vorher grün war, ihr Flur, und in nur wenigen Schritten erreicht sie ihr Zimmer. Erschöpft legt sie sich auf ihre Matratze, kuschelt sich in die Decke und schläft ein.
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