utopia – 34: schall und rauch

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë ist verunsichert: Was ist Wirklichkeit und was ist die virtuelle Welt? Lebt sie überhaupt? Und wenn ja, wo? Und wo sind die anderen Menschen? Das alles verwirrt sie zutiefst. Sie hat ein bisschen Angst, vor allem aber fühlt sie sich immer noch sehr einsam. Wie gerne würde sie ihre Entdeckung mit jemandem teilen. Alleine das würde ihr schon sehr helfen, ihre Gedanken und Gefühle zu sortieren.

Könnte es sein, dass sie sich jetzt in VR befindet und dass die richtige Welt ihre Welt ist, mit den Strassen und den Häusern und mit den anderen Menschen. Immerhin: Wenn die Welt kurz vor dem Aus steht wegen Klimaerwärmung und allem möglichen, dann würde der Verfall der Stadt ja passen. Und dann wäre das hier eine Illusion, die langen Flure in verschiedenen Farben. Aber dann erinnert sich Noë daran, dass sich diese Welt hier, die Flure, die Teppiche und Steine, die Kuscheldecke, die Kerze und die Erdnüsse, dass all das sich für sie erst echt angefühlt hat und noch anfühlt. Gedankenverloren streicht sie mit der Hand über die Maserung ihres Tisches und fühlt das Relief, sie betrachtet ihre Fingerkuppe, die gestern ganz grau war vom Staub aus der Fuge und sieht, wie die Haut dort rau ist und leicht aufgerissen. Sie legt ihre Wange auf die Tischplatte und atmet den Geruch nach Holz ein. Nein, das hier muss echt sein. Aber dann müssen hier auch noch andere Menschen zu finden sein.

Sie steht auf und geht zur Tür, entschlossen öffnet sie sie und blickt hinaus. Erstaunt hält sie inne. Weinroter Farbton schlägt ihr entgegen. Sie schliesst die Türe wieder. Sie überlegt. Ihr Flur, der Flur, an dem ihr Zimmer liegt, der war doch immer grünlich und hatte einen Steinboden? Sie öffnet die Tür wieder. Nein, weinrot leuchten die Wände und der Flur ist mit einem gummiartigen Teppich belegt. Es reiht sich Tür an Tür und dazwischen leuchten die Lampen.

Vielleicht hat sich ihr Wahrnehmung verändert. Vielleicht sieht das, was sie früher als grün wahrgenommen hat, jetzt rot aus? Aber das würde nicht den Teppichbelag erklären. Vielleicht ist sie in einem falschen Zimmer gelandet, als sie sich aus dem Café Meetingpoint zurückgezwinkert hat. Aber nein, die Plastiktüte von den Erdnüssen liegt ja noch auf dem Tisch. Und ihre Kuscheldecke ist ja auch hier.

Da fällt ihr ein, was sie einmal über Dichtestress in der Zeitung gelesen hat: Dass man, wenn die Welt um einen herum zu komplex wird, nur noch selektiv Teile davon wahrnimmt. Vielleicht spielt ihr ihre Psyche gerade einen Streich. Gaukelt ihr vor, dass der Flur rot ist oder dass er zuvor grün gewesen war. Wahrscheinlich ist alles in Ordnung. Ein Flur kann ja nicht einfach so seine Farbe wechseln. Oder?

Noë beschliesst, für den Moment nicht weiter darüber nachzudenken. Sie sagt laut zu sich selber, dass das alles Unsinn ist und das der Flur so aussieht wie immer. Dann begibt sie sich in Richtung der Terrasse. Die frische Luft wird ihr guttun. Als sie in den roten Quergang einbiegt, bemerkt sie unweit der Mündung ihres Flures einen Wagen. Er ist mit Teppichrollen und Farben beladen. Weinrot gefärbte Pinsel liegen herum. Offenbar werden die Flure renoviert. Noë atmet auf. Alles normal, hat sie es doch gewusst! Alles ganz normal. Ihr Flur war grün, jetzt ist er weinrot gestrichen worden. Die Arbeiter scheinen gerade Pause zu machen. Sie wird sie später abpassen. Vielleicht kann sie mit ihnen ein paar Worte wechseln.

Erst einmal spaziert sie zur Terrasse. Die Türe ist verschlossen. Draussen haben die Arbeiter eine Art Zelt aufgebaut mit einem langen Tisch. Darauf liegen Bahnen von Teppich und Schneidewerkzeug herum. Vernünftig, dass sie die Terrasse verschlossen haben, denkt sich Noë. Nicht, dass sich hier noch jemand verletzt oder versehentlich ein Loch in den Teppich schneidet. Also macht sie sich auf den Rückweg in ihr Zimmer.

Zwar weiss sie noch nicht, wie sie Luis das Zwinkern beibringen kann. Aber sie sorgt sich um ihn und möchte ihm wenigstens die Nachricht überbringen über all das, was sie in den letzten Stunden erfahren hat über die VR. Vielleicht kann er sich ausklinken, wenn er weiss, dass er sich in einer virtuellen Realität befindet. Oder sie können zusammen darüber diskutieren und finden eine andere Lösung.

Also legt sich Noë auf ihre Nährungszellen-Matratze und zwinkert sich nach VR, in ihre Wohnung. Der Gestank war unerträglich. Es war noch schlimmer als das letzte Mal. Schnell trat Noë auf die Strasse hinaus. Dort waren die meisten Häuser mittlerweile zu Ruinen zerfallen, die Strasse war kaum mehr erkenntlich. Sie trat eine unangenehme Wanderung zum Café Meetingpoint an, kletternd über Steinhaufen und durch Gräben, die sich teilweise mit Wasser gefüllt hatten. Von weitem sah sie, dass die Häuser um das Café eingestürzt waren. Die Türe war komplett eingedrückt. Vorsichtig stieg Noë über die Scherben und achtete darauf, sich nicht zu verletzen. Das Treppenhaus lag im Dunkeln und sie musste sich mit Händen voran in den ersten Stock hinauf tasten. Auch hier war der Gestank kaum auszuhalten.

Sie blickte sich um, ging zum Tisch, wo sie Luis das letzte Mal gesehen hatte. Er war nicht da. Sie blickte auch unter den Tisch: Wenn er kaum mehr sitzen konnte, war er vielleicht gefallen. Aber auch da lag er nicht. Erstickt rief sie nach ihm, aber es blieb still. Verzweifelt überlegte sie: Was konnte sie tun? Sie dachte an die anderen Friends. Vielleicht hatte jemand von ihnen etwas von Luis gehört? Sie fragte nach, erhielt aber keine Antwort. Niemand reagierte auf ihre Anfrage. Und auch sonst kamen keine Nachrichten. Die Welt schien ausgestorben zu sein.

Noë ergriff Panik. Sie stolperte nach draussen, holte tief Luft aber auch unter freiem Himmel war der Gestank unerträglich. Sie rannte in Richtung ihres Hauses, ihrer Wohnung. Hauseingang an Fenster an Hauseingang an Fenster. Es gab weder Hauseingänge noch Fenster mehr. Nur eingestürzte Ruinen. Auch diese wurden immer weniger. Noë blieb erschrocken stehen. Sie blickte in die Ferne und erkannte, wie sich die Strasse vor ihr langsam aufzulösen begann. Sie blickte zum Himmel, aber da war nichts mehr. Schnell legte sie die linke Hand an die Schläfe, dachte an ihre Kuscheldecke und kniff die Augen zusammen. Das Augenlid begann wie wild zu zucken und als sie die Augen wieder öffnet, liegt sie mit grossem Herzklopfen auf ihrer Matratze.

Das war ein Rettungssprung in letzter Minute, denkt sich Noë. Und dann durchfährt es sie wie ein Blitz: Was, wenn Luis sich nicht rechtzeitig retten konnte? Wo ist er nur? Die einzige Hoffnung, die sie hat, sind die Flure vor ihrer Türe. Und sie stürzt hastig raus, in den weinroten Flur. Ihre Turnschuhe schmatzen federnd, während sie losrennt und dann in den roten Flur biegt und in den blauen hinuntersteigt. Sie rennt und rennt und ruft ununterbrochen Luis Namen.

Irgendwann muss sie erschöpft innehalten und durchatmen. Ihr ist sehr warm, sie weiss nicht, ob von der Rennerei oder der Klimaerwärmung. Sie fragt sich, wieso niemand sie stoppt, zurecht weist, weil sie schreiend durch das Gebäude rennt. Oder wenigstens aus der Tür schaut um zu sehen, was hier los ist. Und Luis scheint unauffindbar. Er müsste sie doch eigentlich hören. Aber wer weiss schon, wie gross das Gebäude wirklich ist. Noë beschliesst, es herauszufinden, einfach immer weiter zu gehen, so lange, bis sie ein Ende erreicht und dann die Flure systematisch abzusuchen, Stockwerk für Stockwerk. Sie hat nichts anderes zu tun. Und sie möchte sich vergewissern, dass es Luis gut geht.

Wenn er denn hier ist. Was, wenn er es nicht rechtzeitig hierher geschafft hat? Oder noch schlimmer: Was, wenn es ihn gar nicht richtig gibt? Vielleicht gehört er ebenso zur VR wie die Häuser und Strassen. Viellicht war er ebenso zu Staub zerfallen. Noë erschauert. Aber er hat sie nie richtig verstehen können. Es könnte schon sein, dass er einfach nur ein Computerprogramm ist? Oder war? Hat es also überhaupt einen Zweck, hier nach ihm zu suchen?

Aber was soll sie denn sonst machen? Es fällt ihr nichts besseres ein und so geht sie einfach immer weiter, weiter durch die farbigen Flure, von einem Teppich zum nächsten, im Wechsel mit Stein- und Holzplatten, Linoleum und Kork. Durch helle Flure und dunklere, durch gemütliche und kühle, Treppen rauf und runter. Immer weiter und weiter. Gleichmässig, Schritt für Schritt, bis sie langsam zu akzeptieren anfängt, dass das alles so ist, wie es ist. Dass sie, die kleine, einsame Noë nichts dagegen tun kann und sich diesem Gebäude fügen muss und den Regeln der VR oder der Einzellungsgesellschaft. Bis sie völlig aufgibt und einfach nur noch geht und geht. Und eigentlich könnte sie jetzt stehen bleiben oder sich mitten in den Flur legen und warten bis sie zu leben aufhört. Aber sie geht, ein letzter Rest in ihr treibt sie noch an, einen Fuss vor den anderen zu setzen, Schritt für Schritt für Schritt.

Und als sie irgendwann aufblickt, steht sie vor einem grossen Tor. Ein Tor, dass sie vorher noch nie gesehen hat und dass irgendwie gar nicht in dieses Gebäude hineinpasst. Es ist viel höher als die anderen Türen. Es besteht aus schwarzen Gitterstäben und Noë kann durch die Stäbe hindurchschauen und sie sieht dahinter einen wunderbaren Rosengarten. Vorsichtig drückt sie die Klinke herunter und öffnet das Tor. Es schwenkt mit einem leichten Ächzen zur Seite auf und Noë tritt ein.

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