[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]
Noë erkannte immer mehr Zeichen. In der ganzen Landschaft waren sie verstreut. Und erzählten ihr Dinge. Die Sonne ist warm. Der Baum gibt Schatten. Die Luft ist frisch. Atme tief ein. Sie hatte Spass daran, die Zeichen zu lesen.
Es war überraschender, als wenn ihre Friends etwas über sich selber sagten. Es war, wie wenn sie eine neue Welt entdecken könnte. Und die Zeichenfolgen wurden immer länger. Bald erzählten sie ihr richtige Geschichten. Zum Beispiel die Geschichte vom kleinen Maulwurf. Er grub Gänge in der Erde. Und ab und zu kroch er an die Oberfläche. Damit die Sonne auf seine Nase scheinen konnte. Sie lachte. Aber eigentlich wollte sie nicht lachen. Es war ganz komisch. Sie konnte kaum atmen. Es war, wie wenn ihr Körper zu eng wäre. Und wie wenn etwas auf ihrem Brustkorb sitzen würde. Sie stellte sich den kleinen Maulwurf vor. Und sie war sich plötzlich ganz sicher, dass sie ihm schon einmal begegnet war. Dass sie ihn kannte. Sie wusste, wie er aussah. Sie hatte ein ganz genaues Bild vor sich.
Plötzlich wusste sie auch, was der kleine Maulwurf sonst noch so machte. Er hatte einen Freund. Einen Frosch. Vom kleinen Teich. Und er fürchtete sich vor dem Milchmann. Noë staunte über sich selber. Was war ein Milchmann? Sie wusste es. Aber irgendwie wusste sie es auch nicht. Es war, wie wenn sie ihn sehen würde, diesen Milchmann. Aber er war nicht da. Und trotzdem konnte sie ihn genau beschreiben. Er trug blaue Hosen und ein weisses Hemd. Er hatte Haare im Gesicht. In der Hand trug er eine Kiste aus Holz und darin waren Glasflaschen, gefüllt mit Milch. Und der Maulwurf fürchtete sich vor ihm. Einmal war eine Glasflasche aus der Kiste gefallen. Dem Maulwurf auf den Kopf. Und seither hatte er Angst vor dem Milchmann. Wieso wusste Noë das? Wieso konnte sie das alles beschreiben? Wie wenn sie es gerade sehen konnte, aber eben nur in ihrem Kopf.
Sie setzte sich unter einen Baum. Sie war etwas erschöpft. Und die Stimmen ihrer Friends erzählten ihr unentwegt, was sie gerade sahen, machten und erlebten. Da war wieder das Kaninchen. Und Kuchen. Und Sirup. Sie wollte die Stimmen nicht mehr hören. Sie wollte alleine sein. Und sie wollte über den Maulwurf nachdenken. Sie schloss die Augen. Aber die Stimmen plapperten einfach weiter. Noë dachte ganz fest an den Maulwurf. Und als sie die Augen wieder öffnete, sass er vor ihr. Nein, der war nicht echt. Es war ein Bild von ihm. Es lag neben ihr. Sie nahm es in die Hand. Es war dick und schwer. Und das Bild liess sich aufklappen. Und darin waren Bilder vom Maulwurf. Und vom Frosch. Und vom Milchmann. Und ganz viele Zeichen.
Und Noë begann zu lesen. Sie las die Geschichte vom Maulwurf, der Angst hatte vor dem Milchmann. Der Milchmann kommt jeden Morgen. Er hält in der Hand eine Kiste mit Milchflaschen. Der Maulwurf folgt dem Milchmann. Er ist neugierig und möchte wissen, was das für ein Mann ist. Er kommt dem Milchmann immer näher, huscht ihm sogar zwischen den Beinen durch. Der Milchmann stolpert. Eine Glasflasche fällt ihm aus der Kiste. Die Flasche fällt dem Maulwurf genau auf den Kopf. Der Milchmann ist wütend und schimpft. Der Maulwurf flüchtet sich unter ein Gebüsch.
Sie hatte es gewusst. Sie hatte es schon vorher in ihrem Kopf gehabt. Sie hatte die Bilder gesehen, bevor sie das Bild aufgeklappt hatte. Sie wusste schon vorher, was passiert. Wie konnte das nur passieren? Sie war ganz erschöpft von ihrem Erlebnis. Sie wollte es ihren Friends mitteilen. Aber sie wusste gar nicht, wo sie beginnen sollte. Sie wusste nicht, wie sie ihren Friends das alles erklären konnte. Ob ihre Friends den Maulwurf auch kannten? Sie teilte ihren Friends mit, dass sie einen neuen Freund hatte. Viele liketen das. Noë lachte. Sie wusste nicht warum. In ihr war es leer.
Sie schaute wieder ihr aufklappbares Bild an. Mit den Zeichen. Buchstaben! Das waren Buchstaben, die Zeichen. Und das aufklappbare Bild: Das war ein Buch! Darin konnte man Geschichten lesen. Oder auch andere Dinge. Komplizierte Sachen. Erwachsene lasen Bücher, in denen kamen keine Bilder vor. Woher nur wusste sie das? Sie schloss noch einmal die Augen. Und als sie sie wieder öffnete, war das Buch verschwunden.
Immer, wenn ich ein neues Kapitel zum Utopia-Projekt veröffentliche, verschicke ich ein Benachrichtigungsmail. In der Seitenleiste links kann man sich dafür einschreiben.