utopia – 39: die kranke grossmutter

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

„ Tam. Tam. Bist du da.
„ Ja Grossmutter, ich bin da. Alles wird gut. Du musst dich jetzt ausruhen.

„ Tam. Wo bin ich denn. Ich habe geträumt, wir seien in die Stadt gefahren.
„ Ja Grossmutter. Ich habe dich zum Arzt gebracht. Er hat dir eine Spritze gegeben. Jetzt wird alles wieder gut.
„ Tam. Ich kann gar nicht klar denken. Aber ich muss dir etwas wichtiges sagen. Tam, es ist kompliziert. Du musst… Ich muss… Wir müssen…
„ Grossmutter, du musst dich jetzt ausruhen. Du musst dich schonen, bis du wieder gesund bist. Der Arzt hat gesagt…
„ Tam, aber es ist wichtig. Es geht um Leben und Tod.
„ Ja, Grossmutter, es geht um dein Leben. Du musst ruhen. Du musst schlafen. Und dann geht es dir besser.



Staubpartikel tanzen in einem schrägen Lichtstreifen. Die Sonne fällt ins sonst dunkle Zimmer, zwängt sich durch den Spalt einer Gardine. Die Luft staubig, alt, kalt. Und doch liegt etwas Unbeschwertes im Tanz der Partikel. Sie kümmern sich nicht um die Welt. Sie scheinen sich nicht einmal um die physikalischen Gesetze zu kümmern. Sie tanzen von oben nach unten und von unten nach oben. Wild im Kreis, bis eines wieder ausschert. Sie freuen sich über den Sonnenstrahl, damit sie noch etwas im Licht tanzen können. Und wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwindet, dann tanzen sie trotzdem weiter. Aber niemand sieht sie mehr.

„ Tam, es ist wichtig. Es geht um deine Schwester. Wir müssen ihr helfen.
„ Ja, ja, Grossmutter. Es geht ihr gut. Guck jetzt erst mal du, wie du wieder auf die Beine kommst. Du musst still liegen, damit dein Körper gesund werden kann.
„ Früher war alles anders. Tam. Früher. Kannst du dich erinnern. Die Natur war so schön. Man wurde gesund, wenn man nur etwas spaziert ist.
„ Ja Grossmutter, die Welt konnte die Menschen heilen. Ich weiss. Aber jetzt ist die Welt selber nicht mehr gesund. Schlaf jetzt.
„ Aber Tam, deine Schwester. Sie braucht mich.
„ Ja, Grossmutter, ja. Sie braucht dich. Sie braucht eine gesunde Grossmutter. Ruh dich aus.

utopia lichteinfall, ©saschademarmels
utopia lichteinfall, ©saschademarmels



Die Partikel tanzen immer noch, aber die Sonne hat sich hinter die Hausecke zurück gezogen. Kinderstimmen sind hörbar. Ein lautes Lachen und Kreischen. Dann rumpelt es. Die Kinder verstummen. Es wird still.

„ Du hattest Recht, ich fühl mich etwas besser.
„ Der Arzt hatte Recht, Grossmutter. Aber noch ist es nicht gut. Noch bist du nicht gesund. Drum bleib noch etwas liegen.
„ Aber Tam, ich muss nach deiner Schwester sehen.
„ Nein Grossmutter, noch nicht. Komm, ich setz mich etwas zu dir. Ich erzähle dir, was ich heute alles gemacht habe.
„ Ja, komm her. Läuft der Generator noch?
„ Der Generator läuft, schau nur, da brennt doch deine Lampe auf dem Tisch.
„ Ja, Tam, ich sehe es. Dann ist alles gut.
„ Ja, Grossmutter, alles ist gut.
„ Und der Garten?
„ Auch dort ist alles gut. Ich konnte das Gemüse abdecken, bevor der Regen gekommen ist. Morgen können wir vielleicht einen leckeren Salat essen. Der wird dir gut tun! Heute musst du noch mit Kartoffelsuppe vorlieb nehmen.
„ Ach Tam. Das alles ist so schrecklich. Wieso nur. Aber wäre es anders besser gewesen. Und wer weiss, wo sie jetzt ist. Und
„ Schlaf etwas, Grossmutter, ruh dich etwas aus.
„ Aber Tam, es geht um. Ich kann doch. Nicht schlafen. Nein. darf nicht. muss.
„ Grossmutter? Weisst du noch, wie wir Drachen haben steigen lassen? Wie hoch sie geflogen sind? Und der Wind, wie er geweht hat. Weisst du noch? Wir waren so glücklich.
„ Ja, Tam. Ich weiss noch.
„ Und du hast mir all diese Geschichten erzählt. Von Frederic, der Geschichten gesammelt hat. Und vom Maulwurf. Alle diese Kindergeschichten. Ich habe sie fest gespeichert. Ich denke noch heute an sie.
„ Ja, Tam, Frederic. Und der Maulwurf. Sie sind wichtig.
„ Ich bin so froh, dass du mich das alles gelehrt hast. Nicht nur das Lesen, Schreiben und Rechnen. Auch Geschichte, Kultur. Von den Menschen.
„ Ach Tam, die Menschen. die Menschen.
„ Die anderen Kinder haben das alles nicht gewusst. Das Wissen geht vergessen, nach und nach. Ich finde es wichtig. Es war richtig, dass du mir das alles erzählt hast. Dass du mir die alten Fotos gezeigt hast. Dass ich das alles wissen darf.
„ Tam, ach, Tam. Es sind schreckliche Fehler passiert.
„ Aber Grossmutter, ich hatte es schön bei dir.
„ Ach Tam, das ist alles so schrecklich. Es tut mir alles so leid. so unendlich.
„ Grossmutter, weisst du noch, das Kinderlied, das du mir vorgesungen hast, wenn ich traurig war? Das von der Maus?


I bin es chliises Müüsli
und winzig isch mis Hüüsli
und muäni öppis Zfresse haa
denn weiss i nöd wo anegoh

Im Feld tuänds mi väjaage
und s Chätzli tuät mi plooge
und gangi ines grosses Huus
rüeft Gross und Chli e Muus, e Muus

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2 Gedanken zu „utopia – 39: die kranke grossmutter“

  1. Liebe Sascha
    Ich kann es jeweils kaum erwarten bis das nächste Kapitel erscheint, welches jedes Mal anders und so spannend ist. Vielen Dank und ganz schönes Wochenende Sylvie

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