utopia – 32: das murmeltier grüsst nicht mehr

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë fühlt sich leer, erschöpft, traurig. Sie denkt an Moppel und Wall-iiv und Leon und daran, dass sie nicht alleine ist. Dass es andere Menschen gibt, die sich Gedanken machen über die Welt. Aber sie fühlt sich doch alleine. Und plötzlich merkt sie, dass sie Angst hat.

Sie horcht in sich hinein: Wovor hat sie Angst? Vor den Flüchtlingen? Nein, sie hat noch nie einen Flüchtling gesehen. Vielleicht gibt es die gar nicht. Vor dem Weltuntergang? Auch das kann sie sich nicht so richtig vorstellen. Es macht sie traurig, dass es keine Bäume mehr gibt und dass die Klimaerwärmung die Erde verändert. Aber es ist nicht ihr Lebensraum. Ihr Zimmer, ihre Wohnung, ihre Strasse, das alles ist immer gleich, es wird nicht wärmer. Es macht sie zwar traurig, aber es macht ihr keine Angst.

Da kommt ihr die Idee, einen Text zu schreiben. Vielleicht kommt sie ihren Gefühlen damit besser auf die Spur. Sie setzt sich also an den Computer, öffnet ein neues Dokument und beginnt erst einmal damit, noch einmal ganz tief in sich hinein zu horchen und zu spüren, was da eigentlich in ihr alles los ist. Dann beginnt sie zu schreiben.


der letzte baum gefällt
die letzten kerze verbrannt
jetzt sitzen wir im dunkeln
und haben doch nicht kalt

ich sehne mich nach dir
möchte erzählen und zuhören
möchte mich austauschen

verstehen und
verstanden werden

doch du bist nicht hier
ich weiss nicht wo
fühl mich allein und leer
auf der suche nach dir

gibt es dich denn überhaupt
und wartest du auch auf mich?


Das ist es also: Sie fühlt sich einsam. Sie denkt kurz an Luis aber sofort wird ihr klar, dass er ihre Einsamkeit nicht wird lösen können, denn auch mit ihm hat sie sich einsam gefühlt. Er hat sie nie richtig verstanden. Sie denkt an das Gedicht mit dem du, das Fussball spielt. Trotzdem: Luis war wenigstens da, existierte, aus Fleisch und Blut. Sie konnte mit ihm reden, auch wenn er sie nicht richtig zu verstehen schien. Noch schöner wäre, wenn sie jemanden treffen könnte, der sie wirklich versteht. Irgendwo in diesem Gebäude muss doch noch jemand sein?

Noë beschliesst, noch einmal durch das Gebäude zu streifen, bis sie jemanden findet. Jemand, der auch gerade unterwegs ist. Wenn sie lange genug ausharrt, dann wird sie doch jemanden treffen, zufällig. Oder sie kann den Ausgang aus dem Gebäude suchen und auf die Strasse gehen. Dort wird es doch noch irgendwo andere Menschen haben. Sie zieht sich die Schnürsenkel der Turnschuhe fest und geht zur Tür. Da sieht sie aus dem Augenwinkel, wie es neben der Schranktür grün blinkt. Sie öffnet das Türchen und zieht aus der Ablage eine graue Wolljacke. Gut, man weiss ja nie, denkt sie sich und schlüpft hinein. Dann tritt sie auf den Flur hinaus.

Sie geht den grünen Flur entlang, wo auf dem Steinboden ihre Turnschuhe wieder das schmatzende Geräusch machen. An der Abzweigung zum roten Flur wendet sie sich nach rechts, nach dort wo sie beim letzten mal die Treppe hinunter in den blauen Flur gefunden hat. Sie geht nun auf dem roten Teppich, der ihren Schritten eine sanfte Federung verleiht. Sie geht und geht und unmerklich wird sie immer langsamer. Verunsichert fragt sie sich, ob es wirklich dieser Flur war und die Treppe wirklich in dieser Richtung lag, das letzte Mal. Wieso kann sie noch kein Geländer sehen? Hat sie sich etwa verirrt. Sie ist sich sicher, dass die Richtung stimmt. Und trotzdem ist sie verunsichert. Sie spürt, wie sich ein Messer langsam in ihren Magen bohrt. Wie sich ihr Magen langsam zusammenzieht. Mit jedem Schritt wird sie unsicherer. Und langsamer. Bis sie nur noch gerade einen Fuss vor den anderen setzt. Und je langsamer sie wird, desto länger scheint ihr der Weg und desto unsicherer wird sie. So lange war sie das letzte Mal bestimmt nicht unterwegs. Die Treppe hätte schon längst auftauchen müssen. Schliesslich ist Noë so langsam geworden, dass sie praktisch still steht. Ihr Magen ist ein einziger Klumpen. Ihr Atem ist ganz flach. Und gleichzeitig schlägt ihr Herz zum Zerspringen. Und es wird ihr sehr, sehr kalt. Sie hat das Gefühl, sie erstickt nächstens.

Und plötzlich muss sie einfach ganz fest einatmen. Sie öffnet ihren Mund und saugt die Luft ganz fest ein, ganz tief in ihre Lungen. Und es wird ihr fast etwas schwindlig und sie muss sich kurz an die Wand anlehnen. An die rote Wand zwischen den Türen und direkt unter eine Lampe, die den Flur gleichmässig beleuchtet.

Sie schüttelt den Kopf. Und als sie sich wieder gerade aufrichtet und sich umblickt, sieht sie nur wenige Schritte von sich entfernt das Treppengeländer aufblitzen. Sie muss etwas über sich selber lachen. Was hat sie sich denn hier nur wieder eingebildet? Sie atmet noch einmal tief durch und geht dann zur Treppe und steigt hinunter und befindet sich nun im blauen Flur. Der tiefblaue Teppich scheint ihr noch weicher als der Rote und die nachtblaue Farbe an den Wänden wirkt sehr beruhigend. Sie merkt, wie ihr wieder wärmer wird.

Noë blickt nach beiden Seiten. Überall reihen sich Türen an Türen, unterbrochen nur von den Lampen zwischen den Türen, die den Flur gleichmässig sanft beleuchten. Für welche Richtung soll sie sich entscheiden? Nach rechts? Nach links? Vielleicht, wenn sie nach rechts geht, kommt sie auch in dieser Etage zu einer Terrasse, irgendwo? Aber ihr Ziel ist es ja gar nicht, eine Terrasse zu finden. Sie will andere Menschen treffen. Soll sie darum lieber nach links gehen? Aber vielleicht ist die Wahrscheinlichkeit ja höher, Menschen dort zu finden, wo es eine Terrasse gibt? Was sollen Menschen sonst in diesem Gebäude machen? Eine Terrasse gäbe ihnen ein Ziel ihrer Spaziergänge. Darum vielleicht doch gerade eben nach rechts? Noë ist verwirrt. Sie kann sich nicht entscheiden, in welche Richtung ihre Reise weiter gehen soll.

Sie ist ganz still und horcht. Vielleicht sind ja irgendwo Schritte zu hören. Aber der Teppich ist so dick, der schluckt bestimmt jedes Geräusch. Selbst wenn da jemand gehen würde. Noë denkt an den Schnee in Lappland, der alle Geräusche verschluckt. Dann schliesst sie die Augen und beginnt sich wie wild um sich selber zu drehen, bis ihr schon wieder ganz schwindlig wird. Sie öffnet die Augen wieder und geht schnurstracks gerade aus. Das ist die Richtung, die ihr das Schicksal vorgegeben hat.

Ein bisschen ist sie von sich selbst überwältigt, von ihrem Willen, durch dieses Gebäude zu wandern, von ihrer Entschlussfähigkeit, obwohl sie diesen Entschluss an gar nichts festmachen kann. Sie hat jetzt fast ein bisschen Angst vor sich selber und merkt, wie sie in einen schnellen Gang fällt, fast ein bisschen rennt. Aber es fühlt sich gut an. Der Teppich federt ihren Schritt und sie fühlt sich leicht und sie muss viel atmen, damit sie Schritt mit sich selbst halten kann und hat gar nicht mehr so viel Zeit, sich zu viele und zu komplizierte Gedanken zu machen. Und so gibt sie sich diesem meditativen Rennen hin. Und in ihrem Kopf bildet sich ein Rhythmus, Worte, die ihre Rennen begleiten: Hauseingang an Fenster an Hauseingang an Fenster. Hauseingang an Fenster an Hauseingang an Fenster. Sie rennt und rennt und merkt gar nicht, wie die Türen und die Lampen im Flur an ihr vorbei sausen und wie sie ihre Füsse hebt und senkt. Sie fliegt über den Teppich und wird gedanken- und gefühllos und ist nur noch in jedem Augenblick.

Aber irgendwann wird ihr Körper doch müde und sie muss innehalten. Wie mechanisch verlangsamt sie ihre Schritte und kommt schliesslich zu einem Halt, während ihre Lungen immer noch eifrig Luft einsaugen und sich auf ihrer Stirn Schweissperlen bilden. Sie ist zufrieden. Erfüllt von ihrem Herzschlag und von Hitze in ihrem Körper und ihrer Gedankenlosigkeit.

Nach einer kurzen Verschnaufpause setzt sie sich wieder in Bewegung. Langsam und entspannt. Schritt für Schritt. Sicher und neugierig. Sie beschliesst, bei der nächsten Verzweigung nach links zu gehen. Nach einigen Minuten taucht ein neuer Flur auf. Er kreuzt den blauen. Und er ist hell mit gelben Wänden und mit gelblichem Marmorstein. Noë bleibt stehen und betrachtet das Muster auf den Steinplatten. Jede Platte scheint ganz eigen zu sein. Das Muster wiederholt sich nie. Und trotzdem wirkt es irgendwie übergreifend, der ganz Boden wie ein Gesamtkunstwerk.

Noë setzt sich spontan auf den Boden. Sie möchte diese Steinplatten anfassen, möchte spüren, wie sie sich anfühlen. Kühl, denkt sie sich. Erstaunt zuckt ihre Hand zurück: Die Platte scheint ihr recht warm. Glatt, ganz glatt, ohne jegliches Relief, ohne Struktur. Sie schliesst die Augen und fährt mit den Fingern eine Weile über die Steine, aber es ändert sich nichts, es handelt sich um eine wirklich extrem glatte Fläche. Jetzt fährt sie bis zum Rand der Platte und spürt die Fuge, die etwas rau ist und im Verhältnis zur Platte etwas abfällt. Als sie den Finger dann wieder auf die Platte legt, scheint diese auch rauer. Es fühlt sich auf einmal irgendwie seltsam an. Noë betrachtet ihren Finger und sieht, wie sich etwas von der Fuge an ihrem Finger festgesetzt hat. Er ist leicht grau, wie von Staub bedeckt. Und ihre Fingerkuppe fühlt sich jetzt auch rau an, aufgeraut, zerkratzt.

Sie steht wieder auf, fühlt, wie ihre Beine etwas steif geworden sind. Sie streckt sich, geht noch einmal in die Knie, schüttelt die Beine. Sie schwingt ihre Arme ein bisschen um ihren Körper und merkt, wie warm ihr ist. Sie schlüpft aus der Jacke und schlingt sie sich um ihren Bauch. Ok, was jetzt? Wohin soll sie. Nach links, hat sie sich vorgenommen. Aber was ist ihr Zielt. Sie möchte Menschen finden. Sie möchte mit jemandem schwatzen. Aber wird sie dieses Ziel so erreichen? Was könnte sie sonst machen? Sie blickt den Flur hinunter. Tür an Tür an Tür an Tür. Dazwischen die Lampen, auch hier, im hellen, gelben Flur. Klar, denn Fenster gibt es keine. Das Licht kommt nur von den Lampen.

So viele Türen und keine Menschen. Ob sie vielleicht einfach mal irgendwo klopfen sollte? Noë tritt beherzt auf die nächste Türe zu und hebt die Hand zum Klopfen. Dann hält sie inne. Was, wenn die Person da drin nicht gestört werden möchte? Aber das kann sie ja nicht wissen. Sie spürt ihr Herz klopfen. Und dann hört sie das Klopfen einer Hand auf Holz. Ihre Hand, klopft an die Türe. Sie lauscht. Aber sie hört nichts. Keine Stimme, die sie herein bittet oder verjagt. Sie klopft noch einmal. Aber nichts passiert.

Noë geht weiter den gelben Flur entlang und klopft da und dort an eine Tür. Aber nichts passiert. Niemand antwortet ihr. Langsam wird sie müde und verliert die Lust an diesem Spiel. Beherzt stellt sie sich vor die nächste Türe und klopft. Und als sie nichts hört, räuspert sie sich und fragt laut, ob jemand da sei? Ob sie eintreten könne? Und sie drückt die Klinke hinunter, aber die Tür rührt sich nicht. Sie lässt sich nicht öffnen.

Enttäuscht tritt Noë zurück. Sie geht ein paar Schritte weiter und probiert es noch bei einer anderen und bei einer weiteren Türe. Aber keine der Türen lässt sich öffnen und niemand antwortet ihr. So geht sie weiter, den gelben Flur entlang und lauscht dem Quietschen ihrer Turnschuhe auf dem Marmorboden. Schritt für Schritt, nicht schnell, nicht langsam geht sie den Flur entlang.

Sie geht, bis der gelbe Flur in einen hellblauen mündet. Dort wendet sie sich nach links und geht weiter, Schritt für Schritt. Und dann biegt sie in einen dunkelorangen Flur mit Korkbelag, der ihre Schritte wieder dämpft und sie geht weiter und weiter. Schliesslich entdeckt sie eine Treppe und steigt hinunter. Ihr wird noch wärmer und sie muss sich erst einmal etwas Luft zufächeln. Dann wendet sich nach rechts, einen olivfarbenen Flur entlang. In der Mitte ist er belegt mit Holzplatten, die ihre Schritte leicht klappern lassen. Das Geräusch beruhigt. In ihrem Kopf formen sich schon wieder die Worte Hauseingang an Fenstern an Hauseingang an Fenster. Und sie geht den Flur entlang und in regelmässigen Abständen kommen die Lampen auf sie zu und verschwinden in ihrem Rücken wieder und sie geht und geht, bis auf der linken Seite ein weiterer Flur erscheint, Weinrot mit einem gummiartigen Teppichbelegt, der schmatzt unter ihren Schuhen und trotzdem federt er ihre Schritte etwas ab. Sie geht und geht. Und spürt die Wärme um sich herum.

Sie fühlt sich einsam. Sie fühlt sich traurig. Sie ist frustriert. Sie möchte ihren Zustand ändern, aber sie weiss nicht, was sie noch tun könnte. Sie hat alles probiert, was sie machen kann. Sie ist müde. Sehr müde. Sehr, sehr müde. Sie möchte schlafen. Sie möchte nichts mehr sehen von diesen Fluren, von diesem Gebäude. Sie möchte nur noch schlafen und nie mehr aufwachen. Sie fühlt sich zu Tode erschöpft. Da erblickt sie eine weitere Treppe, die wieder nach oben führt. Aber sie kann nicht mehr, sie kann die Stufen nicht erklimmen. Und so setzt sie sich auf den Treppenabsatz.

Noë versucht sich in ihr Zimmer zu zwinkern: Sie denkt an die wärmende Matratze, an ihre Kuscheldecke und sie hebt ihre linke Hand an die Schläfe und presst die Augen zusammen. Aber nichts passiert. Als sie die Augen wieder öffnet, sitzt sie immer noch auf der Treppe im weinroten Flur und noch immer ist sie erschöpft. Ein Schreck erfasst sie: Sie hat keine Ahnung mehr, wo sie eigentlich ist, in diesem Gebäude mit den endlosen Fluren. Sie weiss nicht mehr, wo sie herkommt und wie sie zurück in ihr Zimmer kommen soll. Und wenn sie sich nicht dort hin zurück zwinkern kann, was soll sie dann tun? Sie atmet tief aus, beschliesst etwas auszuruhen. Sie denkt an Luis und an ihre Friends. Und sie fragt sich, ob sie einfach zu viel will. Ob es zu viel verlangt ist, jemanden zum reden zu haben, der zuhört und der einen versteht. Die Augen fallen ihr zu.

Erschöpft fällt sie in einen leichten Schlaf. Und als sie die Augen wieder aufschlug, lag sie in ihrem Bett. Zuerst dachte sie fast schon mit Befriedigung, sie liege auf der wärmenden Matratze, aber dann musste sie feststellen, dass es ihr Bett war, nicht in dem kleinen Zimmer, sondern in ihrer Wohnung, in dem Haus, in den immer gleichen Strassen. Sie richtete sich verdutzt auf. Hierhin hatte es sie gezogen? War das ihr wahrer Wunsch?

Sie lauschte auf die Nachrichten ihrer Friends. Sie konnte sich erinnern, dass diese richtiggehend auf sie hineingeprasselt waren, als sie das letzte Mal zurückgekommen war. Aber jetzt tröpfelten sie nur vereinzelt herein. Und irgendwie krächzend und knarzend. Zum Teil fehlten einzelne Worte. Und manchmal überschattete ein schrilles Pfeifen den Inhalt der Botschaft. Jemand hatte einen Kaffeeeeeee … unken. Einer hatte ein … gesehen. Eine brauchte neueeeeeeeee… . Noë wusste nicht, was sie davon halten sollte.

Dann begann sie zu schnuppern. Irgendetwas roch hier sehr seltsam. Ungut. Eklig. Sie stand auf, ging durch den Flur und blickte in die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank und es verschlug ihr fast den Atem. Der Anblick war unbeschreiblich. Schnell schloss sie die Türe wieder. Sie ging weiter ins Wohnzimmer. Ihr Bild war noch da. Das Boot der misslungenen Flüchtlinge, die in den Wellen standen. Über den dunklen Linien aus Beerenmus hat sich ein weisser Film gelegt.

Noë hielt den Geruch in ihrer Wohnung nicht mehr aus. Also ging sie auf die Strasse hinaus. Aber auch dort roch es seltsam, dumpf, moderig. Und als sie sich genauer umsah, bemerkte sie auch den desolaten Zustand der Häuser und der Strassen. Die Hausfassaden bröckelten. Der Gehsteig hatte Löcher. Einmal fädelte sie fast mit ihrem Fuss ein und stolperte. Sie konnte sich gerade noch mit der Hand an einer Hausfassade abstützen und prompt hatte sie danach ein Stück dieser Fassade in der Hand. Erschrocken liess sie es fallen. Es schlug auf dem Boden auf und zerfiel sofort zu Staub.

Ein leichter Wind kam auf und blies Dreck und Staub herum, wirbelte ihn weit in die Luft und Noë hielt sich schützend die Arme vors Gesicht, um diesen Dreck nicht einzuatmen. Sie schloss die Augen, damit ihr der Staub nicht die Sicht nehmen konnte. Keuchend und Hustend erreichte sie das Café Meetingpoint. Die Scheibe in der Eingangstüre hatte einen Sprung und lange Staubfäden hatten sich am Boden zusammengerauft. Eine Lampe war kaputt, die andere flackerte und flimmerte. Noë stieg die Treppe hoch in den ersten Stock.

Dort war es düster und roch moderig. Überall lagen Krümel und die Polster sahen abgewetzt und verbraucht aus. Niemand schien da zu sein. Das Lokal wirkte verlassen und traurig. Noë räusperte sich. Da bewegte sich ganz hinten etwas. Luis, das war Luis. Er hing in einem Sessel und konnte kaum mehr seinen Arm heben. Noë rannte zu ihm hin.

Was denn hier los war? Was passiert war? Ob es ihm gut ginge? Noë überhäufte Luis mit Fragen. Er winkte nur schwach ab. Er wisse auch nicht, was hier vor sich gehe. Es werde schlimmer von Tag zu Tag. Immer weniger Friends kämen ins Café und viele liessen auch sonst nichts mehr von sich hören. Und die Welt zerfiele. Er wies auf die völlig verdreckte Scheibe vor der Terrasse. Und auch er zerfiele langsam. Er könnte kaum mehr aufrecht gehen. Oder sitzen.

Noë fragte ihn, ob er Schmerzen habe. Aber Luis schüttelte den Kopf, es tue ihm nichts weh. Es sei mehr wie eine Bewegungseinschränkung. Was denn dieser seltsame Geruch war, fragt sie weiter. Er war bei ihr in ihrer Wohnung, aber auch auf der Strasse und hier im Café. Luis blickte sie verständnislos an: Er rieche nichts. Wenigstens rieche es noch so wie immer. Und auch die Temperatur sei noch normal. Sonst aber werde es langsam bedenklich.

Noë erzählte Luis vom Gebäude, von ihrem Zimmer und von den vielen Fluren. Und sie bat ihn, sich doch dahin zu zwinkern. Damit sie nicht mehr alleine sein müsste, aber auch, damit es ihm wieder besser gehen könne. Sie erzählte ihm von der wärmenden Matratze und war überzeugt, dass diese bei der Bewegung helfen könnte. Luis zuckte mit den Achseln und fragte dann, wie sie das machte mit dem Zucken und Versetzen und Noë gab ihm genaue Instruktionen: Er solle an das Gebäude denken, oder besser, einfach an die wärmende Matratze. Und an die kuschlige Decke. Er solle daran denken und es sich ganz fest vorstellen. Und dann solle er die Augen zusammenkneifen und mit der Hand die linke Schläfe berühren.

Luis fragte sie, was kuschlig sei. Er konnte sich das nicht so richtig vorstellen. Es sei weich auf der Haut und warm. Ganz weich und wohlig. Und man fühle sich geborgen, wenn man sich in diese Decke einwickle. Noë gab ihr bestes um das Gefühl möglichst genau zu beschreiben. Luis guckte sie kläglich an. Dann fasst er sich mit der Hand an die linke Schläfe, kniff seine Augen zusammen. Aber nichts geschah. Er blieb da sitzen, schief auf seinem Sessel im Café Meetingpoint.

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