[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]
Als Noë die Augen wieder aufschlägt, ist sie ruhiger. Ausgeschlafen, gestärkt. Und ihr erster Gedanke gilt ihren neuen Kleidern. Sie blickt zur kleinen Türe in der Wand und tatsächlich blinkt die Lampe daneben grün auf.
Neu eingekleidet tritt sie auf den Flur hinaus. Die Lampen an den grünlichen Wänden brennen schwach. Die Türen dazwischen liegen im Dunkeln. Ihre Turnschuhe auf dem grünen Steinboden machen leicht schmatzende Geräusche. Sie fühl sich beschwingt und schlägt den Weg zur Terrasse ein, die sie bei ihrer letzten Erkundungstour gefunden hat. Sie fühlt sich richtig gross, als sie so durch die Flure streift. Gross und schlank und schnell. Energetisch.
Als sie die Terrassentüre erreicht, sieht sie schon von weitem den Pool glitzern. Die Steinplatten wirken heute etwas matter. Sie tritt hinaus und wendet ihren Blick zum Himmel. Dieser ist Wolkenverhangen, aber an einer kleinen Stelle blitzt die Sonne hervor. Die Wolken verschieben sich, die Sonne verschwindet und mit ihr das Glitzern auf der Wasseroberfläche. Eine Windböe streift an Noë vorbei und sie fröstelt. Vielleicht sollte sie sich einen Pullover oder eine Jacke bestellen, wenn sie das nächste Mal im Internet ist.
Sie steht noch kurz so da, aber dann wird es ihr zu kalt und sie tritt wieder in den Flur. Ihre Augen müssen sich erst wieder an das Dämmerlicht im Innern des Gebäudes gewöhnen. Sie marschiert den roten Flur zurück, aber als ihre Abzweigung kommt, geht sie noch eine Weile geradeaus weiter. Sie erkennt hinten eine Treppe, die nach unten führt. Neugierig geht sie die Stufen hinunter. Der Flur, der sich ihr eröffnet, ist mit blauem Teppich belegt. Auch die Wände sind bläulich, werden aber von denselben Lampen beleuchtet wie in der Etage weiter oben.
Noë wagt sich noch ein paar Schritte vor, aber dann wird es ihr irgendwie unheimlich zu Mute. Was, wenn sie sich völlig verirrt in diesem Gebäude mit den unendlichen Fluren und zahllosen Türen. Schnell steigt sie die Treppe wieder nach oben, in den roten Flur und geht zur Türe 20030515, wo der grüne Flur, ihr Flur, abzweigt. Ihr Herz klopft etwas. Sie atmet tief durch. Sie muss ja nicht alles auf einmal entdecken, sagt sie sich, als sie zurück zu ihrem Zimmer geht.
Dort setzt sie sich an den Computer, denn auch hier gibt es ja noch viel zu erkunden, in dieser Internet-Welt. Sie hat in den privaten Aufzeichnungen von Jara Vester Kaufmann gelesen. Einer Frau, die sie nicht kennt. Wieso sie überhaupt Zugriff auf diese privaten Aufzeichnungen hat, kann sie sich nicht erklären. Aber sie fühlt sich irgendwie zu ihr hingezogen. Sie denkt, dass sie sich gut mit ihr verstehen würde. Und sie möchte weiter herumstöbern in ihren Aufzeichnungen.
Noë findet unter der Rubrik „Gedichte und Gedanken“ mehr Gedichte, Gedanken und Bilder zur Umweltthematik. Sie beginnt gespannt zu lesen.
Mein Winter in Lappland
Im Winter 2012 bin ich in Lappland gewesen. Und die Erlebnisse da – keinerlei Abenteuer, blosser Alltag in einem kleinen Holzhaus mit elektrischer Stromversorgung – haben mich nachhaltig geprägt. Wälder haben mich schon immer stark angezogen. Vielleicht, weil mein Vater Forstwart war. Schon als kleines Kind war ich darum im Wald zuhause.
In Lappland ist das alles noch etwas intensiver als hier bei uns. Ich war in einem typisch finnischen Holzhaus untergebracht. Ich hatte eine offene Feuerstelle im Wohnzimmer. Ich hatte eine Sauna. Ich hatte ein Plumpsklo. Nur die Küche war mit einem elektrischen Herd ausgestattet. Das Leben dort war einfach, aber ich habe es sehr genossen.
Draussen war es sehr kalt, bis zu Minus 30 Grad. Und es war ganz, ganz still. Die wenigen Geräusche, die es überhaupt gab, wurden sofort vom dicken Schnee verschluckt. Und drinnen war es gemütlich warm. Besonders beeindruckt hat mich auch das Leben im Holz. Hier einige Gedanken, die ich damals dazu verfasst habe:
kälte
in meiner nase bröselt es, bei minus zwanzig grad beginnt es. es pickst, aussen am gesicht und in der nase, beim atmen, bis in meine bronchien hinein. ich versuche flach zu atmen, den schmerz in grenzen zu halten. alles beschlägt und gefriert sofort, durch meine brille kann ich bei diesen temperaturen gar nicht schauen.
es riecht nach schnee, nach winter, nach stille. die temperatur als duft, ich würde ihn sogar im hochsommer erkennen. ich spüre sie auch, diese kälte, wie sie meine haut zusammenzieht. die oberflächenspannung verändert sich.
und die trockenheit. an den fingergliedern und an den ellbogen. um die nase herum. in der luft, man spürt sie beim einatmen. sie macht funken, wann immer man sich an irgendetwas reibt. nachts, wenn man sich im bett dreht, funkt es unter der decke. es knistert leicht.
draussen schluckt der schnee alle geräusche, nimmt sie in sich auf und lässt die welt in vollkommener, geborgener stille zurück. der schnee knirscht unte meinen füssen, unter den schneeschuhen. er dehnt sich, ächzt fast. und trotzdem ist es so still.
stille
der schnee macht die welt ganz still. es ist ruhig, man wird selber ganz ruhig. man beruhigt sich und lässt die hektik hinter sich. die stille lässt einen aufhorchen. suchen, nach dem lärm der menschheit. und plötzlich imaginieren meine ohren den lärm, weil sie ihn so vermissen. ich höre das tosen eines wasserfalls oder das sturmläuten einer gewaltigen kirchenglocke. ich höre helikopter und feuerwehrsirenen. und wenn ich suchend aufblicke, sehe ich nur dieses weiss überall. das weisse etwas, das samtige, was alle geräusche in sich aufnimmt und verschluckt und nicht mehr her gibt.
wärme
in der wärme beginnt die haut dann zu beissen, zu nageln und es verschlägt einem fast den atem. die haut entspannt sich wieder, aber immer noch ist sie trocken und auch die warme luft ist trocken und staubig riecht sie.
tief atme ich ein, den holzgeruch, die wärme im haus. die hitze in der sauna, es duftet nach holz und später riecht es förmlich nach hitze. ich giesse wasser auf und die feuchtigkeit sammelt sich in der luft und ich kann wohlig einatmen, ohne dass es in den bronchien kratzt. auch jetzt bröselt es beim einatmen, die hitze riecht etwas metallen.
der schweiss rinnt mir aus allen poren. ich spüre meine poren. jede einzelne. wie sie sich reinigt. erst nur, wo haut an haut liegt, später unter den haaren. schliesslich ist überall ein schweissfilter, nur nicht in der nase.
es riecht nach holz von den wänden und von der liege. holz und trockenheit. es knistert nicht. es ist still. die heizung knackt ab und zu. die hitze klingt trocken. sie verschluckt den nachhall.
von der sauna trete ich hinaus in den schnee. wieder die kälte. das prickeln auf der haut. kleine nadeln stechen in die füsse, die kalte luft, der kalte schnee, das kalte wasser. der körper entspannt sich. er fühlt sich wohl.
leben im holz
es riecht nach holz. es klingt nach holz. es fühlt sich an nach holz. ich fühle mich geborgen. wohl. ich fühle mich natürlich. umgeben von geborgenheit, wärme. im kamin knistert ein feuer. es klingt trocken und lustig. und gefährlich in diesem holzhaus. es wärmt und es beleuchtet mein wohnzimmer, taucht es in einen warmen widerschein. das holz, dunkel, wie eine höhle. angenehm. mit verschiedenen mustern und maserungen. rund, die wand nicht flach. lebendig. organisch. und der stete duft nach erdverbundenheit.
Noë kuschelt sich in ihre Decke und stellt sich vor, wie es wäre, wenn sie in einem Holzhaus wohnen würde. Wie es riechen würde. Und wie sie sich fühlen würde. Dann kommt ihr aber ein schrecklicher Gedanke: Wenn es stimmt, dass es immer weniger Bäume gibt, dann gibt es auch weniger Holz und dann gibt es auch keine Holzhäuser mehr. Dann ist es gar nicht mehr möglich, sich an einem solchen Ort geborgen zu fühlen. Und es ist auch nicht mehr möglich, ein Feuer zu machen. Ob die Leute dann erfrieren müssen? Und ob sie andere Möglichkeiten finden, sich wohlig einzurichten, auch ohne Holz.
Sie erinnert sich an den Text vom Holz und an den Holztisch. Und sie betrachtet den Tisch vor sich, der auch aus Holz ist und sie berührt in mit der Hand. Er fühlt sich warm und organisch an, die Oberfläche ganz leicht uneben. Lebendig, irgendwie. Sie versucht, an der Tischplatte zu riechen. Leicht metallen, etwas holzig? Es muss fast holzig sein, dieser Duft, wenn der Tisch ja aus Holz ist.
Noë denkt weiter an die Kerze und an das schöne, warme Licht, in welches sie den Raum getaucht hat. Sie stellt sich vor, wie es wohl ist, wenn man vor einem wärmenden Feuer sitzt. Und wie die Schatten und das Licht tanzen, noch viel mehr als bei der Kerze. Und sie stellt sich vor, wie es sich anfühlt, wenn die Wärme des Feuers auf ihrem Körper spürbar ist. Wie ihre Beine und Arme langsam wärmer werden. Wie sie auf ihrem Gesicht fast schon Hitze spürt. Und es wird ihr etwas warm.
Sie merkt, dass es nicht ihre Körpertemperatur ist, die steigt, sondern ihre Einschätzung. Es ist wie eine Erinnerung. Sie kann sich Wärme vorstellen. Und sie denkt an den vielen Schnee und wie die Kälte auf der Haupt prickelt und in den Lungen sticht. Und es ist ihr, als ob sie auch das spüren kann, auch wenn sie weiss, dass sie sich immer noch in dem fensterlosen Raum befindet und die Raumtemperatur sich kaum verändert hat. Sie merkt, dass es körperliche Empfindungen gibt und Vorstellungen. Und sie denkt an die Gefühle und sie begreift auf einmal, was emotionale Empfindungen sind. Dass man traurig sein oder Freude haben kann und dass sie selber durch ihre Gedanken diese Gefühle beeinflusst. Noë denkt an das Regengedicht und an das Gefühl von Geborgenheit.
Immer, wenn ich ein neues Kapitel zum Utopia-Projekt veröffentliche, verschicke ich ein Benachrichtigungsmail. In der Seitenleiste links kann man sich dafür einschreiben.