utopia – 12: flucht zum meetingpoint

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë ging nun jeden Tag ins Café Meetingpoint. Meist traf sie dort auf Luis und dieser hatte sie auch schon anderen Friends vorgestellt. Aber viele Friends waren da jeweils nicht. Die meisten, das hatte ihr Luis erklärt, blieben lieber für sich und unterhielten sich nur über Nachrichten mit anderen.

Noë konnte sich auch gut mit sich selber beschäftigen, zumal sie ja wirklich gerne las und das eine Beschäftigung ist, die man bevorzugt alleine machen kann. Aber das, was sie in der letzten Zeit gelesen hatte, war alles so kompliziert und sie wünschte sich immer noch jemanden, mit dem sie darüber sprechen könnte. So begab sie sich auch heute ins Café und brachte ihre Zeitung mit: Sie würde sie zu lesen beginnen, aber falls sich jemand zu ihr setzen wollte, hätte sie auch nichts dagegen. Und wenn es nur Luis wäre, der den Zeitungsberichten meist noch hilfloser gegenüberstand wie sie selber.

Die Zeitung, die sie sich mitgebracht hatte, war am Morgen einfach auf dem Tisch gelegen, sauber gefaltet und wie frisch ab Druckpresse. Als Noë sie nun aufschlug, suchte sie schon richtiggehend nach dem goldenen Schimmer, der ihre Lektüre wohl auch an diesem Tag leiten würde. Und da war er und sie folgte ihm.


12. August 2016
Flüchtlingsströme nach Europa reissen nicht ab

Das internationale humanitäre System bricht zusammen. Dies machte sich schon länger bemerkbar bei der Spendenbereitschaft der Länder im Falle von Naturkatastrophen und Hungersnöte: Das gespendete Geld reicht schon lange nicht mehr um alle Menschen in Not entsprechend zu versorgen. Neu kommt hinzu, dass viele Länder die Aufnahme von weiteren Flüchtlingen verweigern.

Die Flüchtlingskrise hat sich zu einem weltweiten Problem ausgewachsen. Zur Zeit haben wir so viele Flüchtlinge wie seit 20 Jahren nicht mehr. Gleichzeitig liegt das internationale System zum Umgang mit Flüchtlingen in Scherben. Viele Staaten werden im Umgang mit Flüchtlingen immer härter um sich selbst zu schützen vor der unkontrollierten Einwanderung. Dabei sprechen sie sich zunehmend nicht mehr mit Nachbarländern ab und vernachlässigen dabei ihre internationale Verantwortung.

Bislang blieb weltweit die Zahl der Migrantinnen und Migranten ungefähr stabil bei etwa 3 Prozent. Durch das explosionsartige Bevölkerungswachstum steigt aber auch die Zahl der Menschen, die nicht mehr in ihrem eigenen Land leben. Pro Jahr verlassen heute Hunderttausende ihre Heimat. Der Traum nach einem besseren Leben gibt ihnen die Kraft für die lebensgefährliche Reise nach Europa. Dort sind die Staaten überfordert mit den Massen der Flüchtlingen. Das sorgfältig konzipierte Flüchtlingssystem ist zusammengebrochen.

Griechenlands Schnellzug von Dublin nach Schengen

Die Dublin-III-Verordnung hält klar fest, dass der erste Einreisestaat in die EU für Asylverfahren zuständig ist. Wenn sich einzelne EU-Staaten nicht daran halten, gefährden sie das Schengen-System, also die kontrollfreie Grenzpassage innerhalb des Schengenraums. Verschiedene Staatsoberhäupter von EU-Mitgliedsstaaten haben vermehrt und vehement Griechenland kritisiert: Es ist für viele Flüchtlinge das erste Einreiseland in die EU. Trotzdem registriert Griechenland nicht systematisch alle Ankommenden, es ist heillos überfordert mit dem Asylverfahren.

Die Flüchtlinge gelangen so unregistriert und unsystematisch weiter in den Norden, was zu massenhaften unkontrollierten Einreisen in andere EU-Staaten führt. Die Flüchtlinge scheinen mittlerweile selber zu entscheiden, in welches Land sie einreisen, wo sie um Asyl bitten möchten. Und sie sind dabei wählerisch: Vermehrt landen sie in Ländern mit den höchsten Sozialleistungen, in reichen Ländern Europas, in Städten, die ihnen die besten Zukunftsaussichten verheissen.

Die Versäumnisse Griechenlands seien unhaltbar, lassen verschiedene Politikerinnen und Politiker verlauten. Bereits haben verschiedene Länder der Schengenzone wieder Grenzkontrollen eingeführt. Verschiedene Staaten haben eigene Obergrenzen für Asylgesuche festgelegt und beginnen in der Folge von Terroranschlägen aus Angst die Flüchtlinge nach nationaler Herkunft zu sortieren. Den Rest schickt man nach Griechenland zurück.

Griechenland sei an seiner Misere selber schuld, da es die klaren Regeln von Schengen und Dublin untergrabe. Die Ausrede, dass sich die lange Seegrenze — die gleichzeitig Aussengrenze des Schengenraums ist — schlicht nicht überwachen lasse, lässt die EU nicht gelten. Ein Minister forderte klar: „Die EU erwartet von Griechenland einen spürbaren, nachhaltigen Rückgang der Flüchtlingszahlen.“ Denn jeder Staat in der EU habe seine eigene Bürde zu tragen, sonst breche das System irgendwann zusammen.

Verschiedene Länder zwischen Griechenland und den angepeilten reichen europäischen Ländern haben inzwischen ihre Grenzen dicht gemacht. Es werden Zäune und Mauern errichtet. Wenn die Flüchtlinge nicht weiter nach Norden vordringen können, verbleiben sie in Griechenland. Dort landen sie aber auch zunehmend wieder, wenn sie später innerhalb der EU aufgegriffen werden.

Wer sind diese Flüchtlinge?

Flüchtlinge sind heute vor allem junge Männer zwischen 18 und 34. Oftmals geben sie an, in ihrer Heimat gut ausgebildet zu sein oder sogar studiert zu haben. Meist können sie das aber nicht mit entsprechenden Diplomen belegen. Die Zufluchtsländern könnten auch nicht einfach Ausbildungen anerkennen, die nicht den hiesigen Standards entsprechen, gibt eine Ausbildungsministerin zu bedenken.

Die Flüchtlinge haben meist sehr abenteuerliche Reisen hinter sich: Sie haben gefährliche Wüsten durchquert und sind über das Meer gereist. Und trotzdem oder genau deswegen können sich die hier angekommenen als Glücklich schätzen: Nicht alle überleben diese Reisen, viele verdursten oder verhungern, wenn sie von Menschenschmugglern sich selbst überlassen werden. Und viele ertrinken auch noch auf der letzten Etappe, dem Weg über das Mittelmeer.

Dass sie diese Gefahren auf sich nehmen, stellt natürlich die Frage, woher sie denn kommen und wie dort die Verhältnisse sind. Die meisten sehen in ihrer Heimat keine wirtschaftlich florierende Zukunft und keine persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten. Allerdings ist es gemäss Angaben des UNHCR auch so, dass wir im Augenblick sehr viele Krisenherde haben, Kriege und kriegerische Auseinandersetzungen und viele Umsiedelungen in Folge von Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Erdbeben oder Dürren. Daraus ergibt sich zunehmend auch eine sogenannte interne Migration, wo Menschen ihre Heimatregion verlassen müssen, aber innerhalb des Heimatlandes bleiben können. Sie werden in Flüchtlingslagern untergebracht in der Hoffnung, später zurück kehren zu können.

Langeweile und traumatische Erlebnisse

Die Flüchtlinge landen dann in Auffanglagern, wo sie zu essen, ein Dach über dem Kopf und Kleidung erhalten. Der Alltag ist langweilig, aber manchmal können sie sich auch irgendwie beschäftigen. So gestalten manche von ihnen beispielsweise Kunstwerke, vor allem Zeichnungen und Bilder, die ihnen auch dabei helfen können, ihre Traumata zu verarbeiten. Kinder spielen in den Lagern fangen und verstecken. So können sie sich von den Strapazen der Reisen erholen.

Einige der Flüchtlinge sind nicht zum ersten mal unterwegs: Sie wurden schon ein oder zwei Mal wieder in ihre Heimat zurück gebracht und haben sich unerbittlich immer wieder auf den Weg gemacht. Auf den Weg ins verheissungsvolle Europa.>ver<

Noë wunderte sich ein bisschen: Wieso hatten sich all diese Menschen auf den Weg gemacht, wenn es ihnen jetzt so schlecht ging. Noë musste lächeln und fand das höchst unpassend, denn die Situation der Flüchtlinge schien ihr alles andere als lustig. Obwohl sie nicht recht verstand, was da passierte und wieso die nicht alle einfach zu Hause blieben oder wenigstens den Weg zu Ende gingen bis dorthin, wo sie dann wirklich reich wurden, schien ihr die Situation doch ernst. Aber sie konnte nicht aufhören, sie lächelte und begann sogar zu lachen. Sie wusste, dass sie das nicht bremsen konnte und gab sich dem Lachen einfach hin. Zumal sie ja nicht wusste, wie sie angemessener hätte reagieren können. Als das Lachen abgeklungen war, begann sie wieder ernsthaft über den Artikel nachzudenken. Da bemerkte sie, dass es unten auf der Seite einen weiteren Text zum Thema gab. Vielleicht würde der ihr weiter helfen, die Problematik besser zu verstehen.


25. Mai 2016
Die UNHCR Flüchtlingskonvention

Die Flüchtlingsströme reisse nicht ab. Weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht wie seit 70 Jahren nicht mehr. Eine hohe Bevölkerungsdynamik birgt aber verschiedene Gefahren, beispielsweise Rückschritte in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, politische Destabilisierung und unkontrollierbare internationale Wanderbewegungen. Könnte eine neue Flüchtlingskonvention weiterhelfen?

Im Gespräch mit Expertinnen und Experten haben wir Informationen und Thesen zur UNHCR Flüchtlingskonvention zusammengetragen. Die Konvention ist mittlerweile 65 Jahre alt. Ursprünglich sollte das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge nur drei Jahre bestehen bleiben. 1967 wurde es von seiner zeitlichen Begrenzung befreit, weil man merkte, dass es auch nach 1951 noch Flüchtlinge gab, die weltweit anerkannt werden mussten.

Die Definition von Flüchtlingen ist sehr eng gehalten und wird im heutigen Kontext immer schwieriger. So gibt es vor allem zwei Einschränkungen, die heute viele Menschen auf der Flucht nicht einschliessen. Erstens ist dies der Umstand, dass ein Flüchtling bewusst verfolgt sein und Gewalt gegen sich fürchten muss, beispielsweise aus Gründen seiner Rasse, Religion, politischer Meinung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Wir haben heute aber einen grossen Teil von Migrantinnen und Migranten, welche nicht vor menschlicher Gewalteinwirkung auf der Flucht sind, sondern vor den Folgen von Naturkatastrophen.

Weiter gilt als Bedingung für die Anerkennung von Flüchtlingen gemäss UNHCR-Konvention, dass jemand auf der Flucht sein Ursprungsland hinter sich gelassen hat, d.h. mindestens eine nationale Grenze überschritten hat. Bei der Umsiedlung werden Menschen aber oft im selben Land in Flüchtlingslagern untergebracht. Viele sehen in solchen Lagern keine Zukunft und fliehen von dort aus weiter Richtung Europa.

Mögliche Lösungen liegen unerreichbar fern

Die willkürliche Auswahl eines Landes, in dem man mehr Möglichkeiten als in seiner Heimat sieht, könnte durch eine effektive internationale Zusammenarbeit gestoppt werden, sagt eine Expertin. Würden alle Staaten eine für sie zumutbare Menge an Flüchtlingen aufnehmen und könnten diese gezielt umgesiedelt werden, so wäre es für einzelne nicht mehr attraktiv, sich auf eine gefährliche Flucht zu machen. Weil ein einzelner Mensch sich sein Zufluchtsland nicht mehr aussuchen könnte, sondern beliebig in ein sicheres Land versetzt werden könnte. Ein Kolumbianer würde sich dann sicher zwei Mal überlegen, ob er aus Kolumbien fliehen möchte, wenn er sich danach statt in Grossbritannien in Argentinien ein neues Leben aufbauen müsste. Dieser Umstand würde eine Flucht sehr viel weniger attraktiv machen, so die Expertin.

Die Expertinnen und Experten sind sich aber auch einig: Würde die UNHCR-Flüchtlingskonvention heute neu ausgehandelt werden, wäre das Ergebnis wahrscheinlich schlechter als die bisherige Vereinbarung. Eine gute, international anerkannte Lösung für das Flüchtlingsproblem zu finden, das würde lange und schwierige Verhandlungen erfordern. Und dafür ist im Moment keine Zeit.>wob<

Gerade benachrichtigte Noë ihre Friends darüber, dass sie zwei Artikel über Flüchtlinge in der Zeitung gelesen hatte und fragte, ob jemand selber einen Flüchtling kenne, als sie aufblickte und sah, wie Luis das Café betrat. Er kam direkt auf sie zu und lächelte. Er fragte sie fast tadelnd, ob sie denn schon wieder Zeitung gelesen hätte und woher sie nur all diese komplizierten Geschichten hätte. Sie erzählte ihm von den Flüchtlingen, die ihre Heimat verlassen hatten und jetzt irgendwo im nirgendwo gestrandet waren und nichts mehr hatten und nirgends mehr willkommen waren. Und dass es Regeln gab, die aber nichts taugten und fragte ihn, ob es nicht einfacher wäre, einfach nicht zu fliehen. Dann wäre vielleicht alles gut.

Luis überlegte und meinte, die Flüchtlinge sollten doch hierher kommen, da gäbe es ja genug Platz. Das Café sei nie voll und sie hätten bestimmt interessante Geschichten zu erzählen. Die hätten ja sicher etwas von der Welt gesehen, was sie jetzt zum Besten geben könnten. Er teile auch gerne sein Essen mit ihnen. Aber er habe noch nie einen solchen Flüchtling gesehen und er zweifle ein bisschen daran, dass es die wirklich gäbe. Noë wollte ihm zum Beweis den Zeitungsartikel zeigen, aber die Zeitung war weg. Sie suchte sie auf dem Boden, unter dem Tisch und unter dem Sessel, aber sie blieb verschwunden. Luis zuckte die Achseln, sagte, dass er ihr schon glaube, aber dass man ja auch nicht genau wissen könne, ob das immer die Wahrheit sei, die da in der Zeitung stehe. Das konnte Noë nicht bestreiten. Schliesslich hatte sie schon viel gelesen, was nicht wahr war, sondern eben nur eine Geschichte. Man durfte nicht alles glauben. Oder vielleicht gab es auch einfach nicht nur eine Wahrheit.

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