[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]
Immer wenn Noë ein goldenes Buch fertig gelesen hatte, verschwand es einfach, wenn sie einmal nicht hinguckte und jedes Mal fand sie in den Regalen ein neues leuchtendes Buch.
Sie nahm sich wieder und wieder vor, das nächste Mal zu beobachten, wohin das Buch verschwand. Aber sie war von der Lektüre immer so erschöpft, dass ihr irgendwann einfach die Augen zufielen und wenn sie sie wieder öffnete, waren ihre Hände leer.
Inzwischen wusste Noë so allerhand über die Welt und die Menschen. Sie konnte nicht nur Lesen und Rechnen, sondern hatte auch Grundlagenwissen in Geografie, Naturkunde und Biologie. Sie wusste, wie der menschliche Körper funktionierte (dass man essen und trinken musste, um den Körper mit Nährstoffen zu versorgen — was sie sehr seltsam fand, denn sie konnte sich nicht erinnern, jemals etwas gegessen oder getrunken zu haben) und das Pflanzen den Sauerstoff in der Luft produzierten. Sie wusste so viel und trotzdem hatte sie oft das Gefühl, dass sie das alles gar nicht richtig verstand. Obwohl sie andauernd lachen musste.
Sie verstand wohl die Fakten, aber sie wusste irgendwie nicht, was das alles bedeuten sollte. Sie lebte immer in dieser Bibliothek und sah keine Pflanzen und keinen Sauerstoff und sie konnte sich auch nicht erinnern, je einen Baum oder einen Fluss gesehen zu haben. Das alles war sehr abstrakt und sie verspürte ein grosses Verlangen danach, all diese Dinge mit jemandem zu teilen und zu besprechen. Und so beschloss sie, sich noch einmal auf die Suche nach jemandem zu machen, der mit ihr über die Welt diskutieren wollte.
Zunächst versuchte sie es bei Birgit, der Frau, die ihr damals das Ende der U-Boot-Geschichte erzählt hatte. Aber Birgit war mit anderen Abenteuerbüchern beschäftigt und hatte keine Lust, sich daraus loszureissen. Noë fragte ihre Friends darum geradeheraus, ob ihr jemand das mit dem Sauerstoff und den Pflanzen erklären könnte. Als sich aber niemand meldete schlug sie stattdessen vor, sie könnte allen interessierten Friends erklären, wie das Wassersystem der Erde funktionierte. Darauf meldete sich Art bei ihr.
Sie setzten sich zusammen in eine Ecke und Noë begann zu erklären, wie die Sonne Wasser aus den Seen aufsteigen lässt und sich Wolken bilden. Art wirkte etwas ungeduldig. Er hatte gerade einen Heldenroman gelesen, indem es eine Figur namens Aquaman gab und der Wasserkreislauf interessierte ihn nicht so sehr, wie er anfänglich gedacht hatte. Noë fragte ihn zu Aquaman aus und anfangs gab ihr Art noch bereitwillig Antwort. Aber dann begann ihn auch das zu nerven. Er wollte lieber den nächsten Teil seiner Heldengeschichte lesen als sich mit Noë zu unterhalten.
Und so sass kurze Zeit später Noë wieder ganz alleine da. Sie hatte niemanden gefunden, der mit ihr über all das Wissen sprechen wollte, das sie sich über die Welt erworben hatte. Niemand interessierte sich für das Geheimnis der goldenen Büchern. Und nicht einmal, wenn Noë den anderen die Gelegenheit gab, selber ein Gesprächsthema zu bestimmen, wollte sich jemand mit ihr unterhalten. Sie war traurig und erschöpft und unzufrieden. Und trotzdem lachte sie ständig und ging sich damit selber auf die Nerven. Sie beschloss, die Augen fest zu schliessen und nie mehr aufzumachen.
Immer, wenn ich ein neues Kapitel zum Utopia-Projekt veröffentliche, verschicke ich ein Benachrichtigungsmail. In der Seitenleiste links kann man sich dafür einschreiben.