utopia – 7: der goldene urknall

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë begann sich allmählich etwas zu langweilen mit all den Büchern. Zwar liebte sie jede einzelne der vielen Geschichten, aber es waren halt doch nur Geschichten und es waren nicht eigene Erlebnisse und sie fragte sich manchmal, was das alles denn mit ihr zu tun hatte.

Als sie wieder einmal unschlüssig vor den Regalen stand und die Buchrücken nach einem Zeichen absuchte, wie sie ihre Wahl treffen sollte, leuchtete auf einmal ein Buch golden auf. Sie war sich sicher, dass sie vorher nie ein goldenes Buch hatte in den Regalen stehen sehen. Und das Buch zog sie beinahe magisch an. Schnell nahm sie es aus vom Tablar und versteckte es intuitiv unter ihrem Pullover. Sie ging zu ihrem Sessel und erst dort holte sie es wieder ganz vorsichtig hervor. Es musste etwas ganz besonderes sein.

Noë schlug das Buch fast andächtig auf und begann zu lesen. Es war keine Geschichte. Jedenfalls kamen keine Figuren darin vor. Das Buch handelte von der Entstehung der Erde. Ganz zu Beginn habe es einen Urknall gegeben. Materie habe sich gebildet, Atome, Galxien. Noë las von der Entstehung der Erde, von der Ursuppe und den Dinosauriern. Bis sie zu den Menschen kam. Da war das Buch zu Ende. Sie staunte. Dass die Menschen eine Geschichte hatten. Auch darüber hatte sie bisher noch nie nachgedacht. Dass man überhaupt über so etwas nachdenken kann. Sie musste mal wieder lachen. Sie schloss die Augen, um sich besser konzentrieren und über so etwas kompliziertes nachdenken zu können.

Als sie die Augen wieder aufmachte, war das Buch weg. Es lag nicht neben und auch nicht unter dem Sessel. Und es war auch nicht wieder von selber ins Regal zurück gekehrt. Noë fragte sich kurz, ob jemand gekommen sein könnte und ihr das Buch weggenommen habe. Dann aber erinnerte sie sich daran, dass sie auch einmal das Buch über den Maulwurf gehabt hatte und dass auch dieses einfach so verschwunden war. Und dann hielt sie noch einmal inne: Sie erinnerte sich. Sie wusste auf einmal, was es bedeutet, wenn man sich an etwas Vergangenes erinnert. Wenn man früher einmal etwas erlebt hatte und sich später dann dran zurückerinnern konnte. Und sie schloss noch einmal die Augen und versuchte sich an weitere Dinge zu erinnern. Aber ausser dem Maulwurf und Luis und Alice fiel ihr grade nichts mehr ein.

Immer noch stand sie vor dem Regal und da war ihr, als schimmere ein Buchrücken besonders, golden. Und neugierig packte sie das Buch und tatsächlich: Wieder hielt sie ein goldenes Buch in der Hand. Es war nicht dasselbe, das sie eben gelesen hatte. Es war kleiner im Format, dafür etwas dicker. Aber es war ebenso golden und Noë wurde davon ebenso angezogen wie vorher vom Buch über die Geschichte der Erde. Und entschlossen nahm sie dieses neue Buch mit zu ihrem Sessel.

Etwas enttäuscht war sie dann erst einmal, als das Buch ganz andere Zeichen enthielt. Sie dachte nach und merkte dann, dass es sich nicht um Buchstaben sondern um Zahlen handelte. Trotzdem begann sie den Inhalt zu studieren. Und nach und nach lernte sie, wie man Zahlen addiert, subtrahiert, multipliziert und dividiert. Weiter hinten im Buch kamen dann plötzlich auch wieder Buchstaben vor. Es gab lustige Satzaufgaben von Eva, die Äpfel und Birnen auf Körbe verteilt und von Otto, der berechnet, wie viel Benzin er tanken muss, wenn er mit dem Auto von A nach D fahren möchte.
Äpfel und Birnen und Körbe. Und Autos. Noë hatte plötzlich etwas im Kopf. Eine Erinnerung. Es war kein Bild. Es war mehr ein Gefühl. Was war denn schon wieder ein Gefühl? Und ein erinnertes Gefühl erst noch. Es war dunkel. Sie hatte die Augen geschlossen. Etwas summte oder brummte leise. Und ihr Körper wurde angenehm leicht durchgeschüttelt. Das war beruhigend. Es machte sie sehr müde. Und sie hörte noch etwas. Stimmen. Eine Frau und ein Mann. Sie redeten leise miteinander. Aber das leichte Schütteln war so angenehm, dass sie immer wieder wegtauchte und den Stimmen nicht richtig zuhören konnte.

Die Erinnerungen waren für Noë anstrengend. Sie konnte sie nicht richtig einordnen. Alles war nur sehr bruchstückhaft vorhanden. Sie war etwas hilflos und überfordert. Und gleichzeitig zwang sie ein innerer Reiz immer noch zu diesem fortwährendem Lachen. Sie versuchte sich wieder Otto zuzuwenden und Eva und den Äpfeln und diese Erinnerungen ganz weit wegzudrängen.

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