utopia – 46: regenbogentanz

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë schlägt die Augen auf. Zu ihrem Erstaunen liegt sie nicht in ihrem Bett. Nicht in der Wohnung, nicht in ihrem Zimmer. Sie liegt einfach irgendwo, mitten im Flur. Sie reibt sich die Augen. Probeweise legt sie die Hand an die Schläfe und versucht sich in ihr Zimmer zu zwinkern, aber es gelingt ihr nicht.

Sie rappelt sich auf. Sie betrachtet nachdenklich den Flur. Die immer gleichen Abstände zwischen den Türen und den Lampen und den Lampen und den Türen. Sie denkt nach über ihre Situation, die Flure, die Türen, die Lampen. Und plötzlich weiss sie, dass sie noch immer nicht in der Realität lebt, dass sie immer noch in einer virtuellen Realität gefangen ist. Nicht nur die Stadt mit ihrer Wohnung, die zerfallene Stadt, sondern auch dieses Gebäude mit den endlosen Fluren und ihr Zimmer und sowieso der Rosengarten sind nicht echt. Auch die Flüchtlinge waren nicht echt. Es ist alles nicht echt.

Noë fühlt sich nicht wohl. Sie horcht in sich hinein. Sie fühlt sich beengt. Als ob jemand auf ihrem Magen sässe. Sie möchte den Kopf einziehen, die Schultern nach vorne klappen und die Beine anziehen. Sie möchte sich zu einer Kugel formen. Und nichts mehr hören und sehen. Sie horcht in sich hinein und es wird ihr bewusst, dass sie Angst hat.

Und noch etwas wird ihr bewusst: Sie möchte keine Angst haben. Sie möchte diesem Gefühl nicht ausgeliefert sein. Sie möchte den wegschubsen, der auf ihrem Magen sitzt. Sie möchte frei Atmen. Sie möchte frei darüber nachdenken, wer sie ist und wo. Sie möchte Kontrolle haben, wenn nicht über ihr Leben, dann wenigstens über ihre Gefühle.


kraft der sonne. spürbar auf meiner haut. auf meinem körper. auch wenn ich nicht hinsehe. wärme. und kraft. energie. regen auf meiner haut. rinnt zwischen den feinen häärchen hindurch. spürbar. nass. benetzt. riecht nach sommer und nach apfelbaum. gibt mir energie. gibt mir das gefühl, einen körper zu haben.


Noë rafft sich noch einmal auf. Also: Sie befindet sich in einer virtuellen Realität. Ihr Bewusstsein. Ihr Bewusstsein befindet sich in einer virtuellen Realität. Und ihr Körper? Sie schaut an sich herunter. Sie schliesst die Augen und versucht ihren Körper zu spüren. Sie versucht sich darauf zu konzentrieren, ihren realen Körper zu bewegen. Ihre Hand zu heben. Ihre reale Hand. Sie merkt, dass sie keine Chance hat, zu beurteilen, ob sie sich wirklich bewegt oder nur in der virtuellen Realität. Sie reisst die Augen auf. Immer und immer wieder. Aber sie sieht immer nur den Flur vor sich.

Dann fällt ihr plötzlich auf, dass der Flur an Farbe verliert. Er wird immer grauer und grauer. Und kürzer. Der Flur wird kürzer. Was, wenn jemand an der virtuellen Realität herumspielt. Und sie plötzlich keinen Platz mehr darin hat. Weil der Flur zu eng wird für sie. Ihr Herz klopft. Sie beginnt den Flur entlang zu gehen und bei der nächsten Abzweigung geht sie nach rechts. Auch dieser Flur ist grau. Und kurz. Und eng. Sie beginnt zu laufen. Vielleicht findet sie den Rosengarten. Vielleicht ist sie da in Sicherheit?

Ihr kommt der Gedanke an Mat. Und die Wut flammt erneut in ihr auf. Ob Mat dafür verantwortlich ist, dass sie hier von einem Flur in den nächsten gejagt wird, in Angst, dass ihr die Luft zum Atmen ausgeht? Und ob er verantwortlich dafür ist, dass sie sich überhaupt in einer virtuellen Realität befindet? Aber er war eigentlich sehr freundlich zu ihr? Vielleicht weiss er selber nicht, dass das alles nicht echt ist?


regen, der vom himmel tropft. auf mich, auf meine haut. nicht überall. nicht ins gesicht. er tropft auf meinen arm. ich spüre ihn, spüre, wo er mich am arm streift. ein tropfen. ein zweiter. ein dritter. mein arm im regen. mein kopf an der sonne. blickt in den regen hinüber. ich könnte einen schritt zur seite machen, aber ich kann nicht. spüre den regen auf meinem arm. immer am gleichen arm. mein kopf ist auf der sonnenseite.


Sie findet den Rosengarten nicht. Und sie weiss ja schon aus Erfahrung, dass der Rosengarten nicht dann auftaucht, wann sie es will. Vielleicht taucht er auf, wann Mat es will? Oder vielleicht gibt es eine Übergeordnete Macht? Auf jeden Fall hilft es nichts, dass sie jetzt hier herumrennt. Sie bleibt stehen und sieht sich um. Und — sie steht direkt vor ihrer Tür, der Tür mit der Nummer 19990331.

Wieso auch nicht, denkt sie sich und tritt ein. Das Zimmer ist unverändert, einfach farblos, aber sonst ist alles noch da. Ihre Kuscheldecke, der Laptop. Die Verpackung von den Erdnüssen. Sie legt sich aufs Bett und verbirgt ihr Gesicht tief in der Decke. Sie atmet tief ein und aus und streicht mit der Hand über die Decke. Sie erinnert sich an das Kaninchen und wie es sich angefühlt hat, das Tier zu streicheln. So intensiv. So weich. So lebendig.

Wie konnte sich etwas so real anfühlen, wenn es doch nicht echt war? Und dann denkt Noë an früher. An die Stadt. An ihre Wohnung, die Zeitung, die Bücher. Sie hat sich nie Gedanken gemacht über Gefühle, bis die Gedichte und Gedanken aufgetaucht sind. Sie hat darum gar nicht gemerkt, dass sie keine Gefühle hatte.

Und jetzt, jetzt hat sie Gefühle. Wie war denn das überhaupt möglich? Wie konnte sie Gefühle haben, wenn alles nicht echt ist. Und wo sind die anderen Menschen? Wieso ist sie ganz alleine hier? Oder ist sie gar nicht alleine, kann aber die anderen nicht wahrnehmen? Hat jeder eine eigene virtuelle Realität? Oder sind alle anderen schon ausgestiegen. Und nur sie hat den Ausgang noch nicht gefunden? Und Mat, immer wieder Mat. Wo ist er? Was ist er?

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