[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]
Als Noë aufwachte, war ihr erster Gedanke der an ihr Kunstwerk im Wohnzimmer: Ihre Insel, auf der sie alle Flüchtlinge willkommen hiess. Und die Beerenmus-Flüchtlinge im Boot, dass direkt auf diese Insel zusteuerte.
Sie stand auf und ging zum Wohnzimmer, aber die Wand war weiss. Keine Flüchtlinge. Und keine Insel. Noë hielt erstaunt den Atem an. Sie runzelte die Stirn und dachte nach: Hatte sie das alles etwa nur geträumt? War sie gar keine Malerin? Sie trat auf die Wand zu und inspizierte sie von ganz nah, aber da waren keine Hinweise auf Flüchtlinge, auf ein Boot im Sturm oder auf eine Insel. Nicht einmal auf Beerenmus. Die Wand war makellos weiss. Sie musste also geträumt haben. Noë war etwas enttäuscht. Der Gedanke an ihr Kunstwerk hatte ihr beim Aufwachen so viel Energie gegeben.
Sie blickte verloren in das Bücherregal, stöberte hier und da in den Büchern. Da fiel ihr ein gefaltetes Papier in die Hände. Sie ging zum Tisch und breitete es auseinander. Es war gross und es waren darauf Linien und Formen zu sehen. Das musste ein Stadtplan sein. Sie war sofort fasziniert: Ihre Augen glitten über die Strassen und Häuser hinweg. Die Strassen schienen einerseits gerade, aber irgendwie auch geometrisch geformt. Die Häuser waren sehr gleichförmig. Das ergab ein schönes, ruhiges Muster. Hauseingang an Fenster an Hauseingang an Fenster. Sie bewegte rhythmisch den Kopf, obwohl sie auf dem Plan natürlich keine Hauseingänge oder Fenster sehen konnte. Aber sie stellte sich vor, dass es sich so etwa anfühlen musste, wenn man die Strassen entlang lief.
Sie suchte nach dem Café Meetingpoint, dass sich ja dadurch auszeichnete, dass es an einen kleinen Hinterhof angrenzte. Und tatsächlich fand sie ein Haus mit einem Hinterhof. Das musste das Café sein. Mit dem Finger fuhr sie die Strasse entlang auf der Suche nach ihrem eigenen Haus. Und fand es auch. Aus Spass fuhr sie mit dem Finger weiter die Strasse in der entgegengesetzten Richtung entlang aber auch da gelangte sie wieder zum Café. Sie probierte einige andere Strassen aus, und immer landete sie beim Café, egal welche Abzweigungen sie auch nahm. Meetingpoint, das war ja wirklich ein passender Name. Da traf man sich immer, egal aus welcher Richtung man kam. Noë atmete zufrieden auf.
Dann aber schaute sich Noë den Plan aus der Ferne an. Sie versuchte eine Übersicht zu gewinnen über diese Stadt. Sie erkannte in einer Ecke eine relativ freie Fläche, vielleicht ein Park. Und auf der anderen Seite gab es etwas, das konnte gut ein Hügel sein, vielleicht mit einem Aussichtspunkt. Mit dem Finger versucht sie einen Weg durch das Strassenlabyrinth zu finden, von ihrer Wohnung zum Park oder zum Hügel. Aber es gelang ihr nicht. Immer landete sie wieder beim Café Meetingpoint. Langsam ergriff Noë Verzweiflung. Ihr Herz begann ganz schnell zu schlagen und in ihrem linken Auge machte sich ein Zucken bemerkbar.
Sie schaute auf den Stadtplan, auf den Park und wünschte sich dort hin. Sie fasste sich mit der Hand an die linke Schläfe, presste die Augen zu und als sie sie wieder öffnete, stand sie auf einer Wiese, unter einem Baum. Sie blickte um sich, mehr befriedigt als erstaunt. Wiesen, Bäume, Sträucher. Hier und da eine Parkbank. Wege, die um die Bäume mäanderten. Und weiter hinten erkannte sie sogar einen kleinen Teich mit einem Steg.
Ruhig spazierte sie durch den Park. Schaute nach links und nach rechts. Auch nach oben, in den gleichmässig graublauen Himmel. Sie ging so hin und her und durch den ganzen Park, spitzte die Ohren, ob sie etwas hören konnte, ein Tier vielleicht, ein Vogelgezwitscher oder ein Rauschen aus dem Blätterdach. Und langsam, nach und nach, fiel sie in einen Rhythmus und ihr Körper nahm den Rhythmus auf und sie wiegte den Kopf dazu. Hauseingang an Fenster an Hauseingang an Fenster. Hauseingang an Fenster an Hauseingang an Fenster. Hauseingang an Fenster an Hauseingang an Fenster.
Verdutzt blieb sie stehen. Hier im Park gab es keine Häuser, keine Hauseingänge und keine Fenster. Trotzdem hatte sich dieser Rhythmus in ihr so verfestigt, dass sie an gar nichts anderes mehr denken konnte. Enttäuscht blieb sie stehen. Der Park machte ihr so keinen Spass mehr. Sie erinnerte sich aber, dass es ja noch den Hügel gab. Und sie fasste sich mit der Hand an die linke Schläfe, dachte an den Hügel und presste die Augen zusammen. Das linke Auge begann zu zucken und als sie die Augen wieder aufmachte, stand sie immer noch im Grünen, aber die Wege waren schmaler und die Büsche waren verschwunden. Sie stand auf einem Hügel und konnte auf die Stadt herunter blicken.
Sie sah immer gleiche Häuserfronten, jetzt von schräg oben. Sie sah Hauseingang an Fenster an Hauseingang an Fenster. Und es ergriff sie beinahe Panik. Schnell schloss sie die Augen wieder, fasste sich an die linke Schläfe und wartete, bis das Auge zu zucken anfing. Als sie die Augen wieder öffnete, stand sie vor dem Café Meetingpoint. Sie atmete auf: Sie war in ihrer vertrauten Welt.
Sie betrat das Café und hielt Ausschau nach Luis, der heute an einem der hinteren Tische sass. Er winkte ihr zu. Sie sei aber spät dran, begrüsste er sie. Sie sei im Park gewesen und auf dem Hügel, erzählte Noë. Spaziergänge, das sei irgendwie nicht so seine Sache, sagt Luis. Er sitze lieber gemütlich an einem Tisch und betrachte die Welt von dort aus. Ob ihm eigentlich bewusst sei, dass alle Wege der Stadt immer zum Café Meetingpoint führten, fragte sie ihn. Das sei doch gut, antworte er. Immerhin heisse das Café ja Meetingpoint. Noë stimmte ihm zu.
Als Noë wieder zu Hause in ihrer Wohnung war, lag der Stadtplan immer noch ausgebreitet auf dem Tisch. Sie wollte ihn wieder zusammenfalten und dabei bemerkte sie, dass sich auf der Rückseite ein Bild befand. Sie wendete die Karte und erkannte, dass es sich um ihr Bild handelte, das Bild der Insel, das sie selber gemalt hatte. Sie freute sich: Dann hatte sie das alles ja doch nicht einfach so geträumt. Sie hängte es wieder ans Bücherregal. Dann holte sie die Beeren aus dem Kühlschrank und vervollständigte das Gemälde wieder mit den Beerenmus-Flüchtlingen an der Wand. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk von neuem und ging dann ins Bett.
Aber sie konnte nicht einschlafen. Sie dachte angstvoll daran, dass das Bild am nächsten Tag vielleicht wieder verschwunden sein könnte. Und so ging sie nervös zurück ins Wohnzimmer. Das Bild war noch da. Sie setzte sich aufs Sofa und betrachtete es. Ihr Insel auf dem Stadtplan und das Flüchtlingsboot an der Wand.
Irgendwann nickte sie ein. Und als sie die Augen wieder aufschlug, war das Bild weg. Die Wand war makellos weiss. Den Stadtplan fand sie sauber zusammengefaltet im Regal.
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