[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]
Das Zeitungslesen hatte Noë angestrengt. Da waren so viele Fakten und irgendwie schaffte sie es einfach nicht, diese angemessen einzuordnen. Sie wusste nicht, was sie mit all den Informationen anfangen sollte.
Es schien ihr irgendwie auch widersprüchlich: Gab es nun eine Klimaerwärmung oder nicht? Und was sollte man denn jetzt tun? Es gab offenbar verschiedene Ansätze, aber welches war denn der richtige? Und wieso stand das nicht da? Und überhaupt: Was hatte das alles mir ihr zu tun? Wozu sollte sie sich mit diesen Informationen abgeben?
So beschloss sie, sich auf die Suche nach anderen Menschen zu machen und zu schauen, ob sie in dieser neuen Welt jemanden finden würde, der mit ihr über das Klima diskutieren wollte. Sie war überzeugt, dass ihr das helfen würde. Sie hatte bereits gehört, dass es auch in dieser Welt Friends geben musste. Eine hatte vorhin das Wetter geliket. Und einer hatte mitgeteilt, dass er einen Kuchen backen würde. Was Noë aber wirklich hat aufhorchen lassen: Ein anderer hatte dem Kuchentypen den Tipp gegeben, frische Vanille zu benutzen statt des Konzentrats. Noë wusste erst selbst nicht, was sie an der frischen Vanille so aufregend fand. Aber dann hatte der Kuchenbäcker sich noch einmal gemeldet mit einer Frage (wie lange man die Vanille-Stangen auskochen müsse) und der Vanilletyp hatte darauf geantwortet, dass meist eine halbe Stunde ausreiche. Und da war Noë auf einmal bewusst geworden, dass die Friends hier wirklich miteinander redeten, sie führten richtige Dialoge. Und sie hatte Hoffnung geschöpft, dass vielleicht auch jemand mit ihr sprechen würde.
Sie trat auf die Strasse hinaus. Es war eine sehr gerade Strasse, gesäumt von Häusern mit immer genau derselben Ansicht: Hauseingang, grosses Fenster rechts, kleines Fenster links. Vier Stockwerke übereinander. Dann das nächste Haus: Hauseingang, grosses Fenster rechts, kleines Fenster links. Die Strasse schien frisch geteert. Ohne Risse, ohne Dellen. Eine makellose Fläche. Noë blickte erst nach rechts. Soweit das Auge rechte, reihten sich Hauseingang an Fenster an Hauseingang. Sie wandte sich nach links und erkannt etwa 50 Meter entfernt eine Querstrasse. Darauf marschierte sie jetzt zielstrebig zu. Dort angekommen blickte sie erst nach links. Der Anblick war derselbe, den sie vorher nach rechts gehabt hatte: Hauseingang an Fenster an Hauseingang an Fenster. Soweit das Auge reichte. Kurz blitze vor ihrem inneren Auge eine weite, hügelige Wiesenlandschaft auf mit bunten Blumen und Schmetterlingen und einem Kaninchen. Sie konnte sich nicht erinnern, in welchem Zusammenhang sie diese Landschaft bewundert hatte. Oder ob sie sie überhaupt bewundert hatte. Denn der Gedanke an diese Landschaft löste ein seltsames, eher nervöses Gefühl in ihr aus. Schnell konzentrierte sie sich wieder auf das Hier und Jetzt, auf die Strasse und die Häuser.
Als sie sich nach rechts drehte, sah sie in der Ferne eine Frau mit einem roten Regenschirm, die sich rasch entfernte. Offenbar war sie in Eile. Noë nahm die Verfolgung auf und beobachtete, wie die Frau in einem Haus verschwand. Es schien ihr, der Hauseingang sei dort etwas breiter als bei den anderen Häusern. Und tatsächlich: Als sie an der Stelle angekommen war, erkannt sie, dass dieses Haus nur grosse Fenster hatte und auch nur drei Stockwerke hoch war. Der Eingang bestand aus einer Schiebetür aus Glas und im Innern befand sich ein Schild mit der Aufschrift „Café Meetingpoint“. Noë trat schnell durch die Schiebetür und folgte dem Pfeil auf dem Schild ins Gebäudeinnere und eine Treppe hoch. Oben angekommen stand sie in einem gemütlich eingerichteten Raum voller weiter, dunkelroter Sessel. Hier und da sassen Menschen an Tischen und lasen in Büchern oder blätterten in Zeitungen. Noë traute sich nicht, sich einfach zu jemandem hinzusetzen. Sie hatte etwas Bedenken, dass sie die anderen bei der Lektüre stören würde. Aber sie freute sich, dass da richtige Menschen um sie herum waren, Menschen, die auch lasen und sich dabei nicht so abschirmten. Und während ihr noch ganz bewusst war, dass sie neu hier war und erst einmal alles erkunden musste, fühlte sie gleichzeitig, wie die Erinnerung an ihren letzten Aufenthaltsort langsam schwand. Sie wusste noch, dass sie dort viel gelesen hatte und sie konnte sich auch noch an all die Geschichten erinnern. Und an all das, was sie über die Welt und die Menschen gelesen hatte. Aber wo sie das getan hatte, das wusste sie schon nicht mehr.
Noë lauschte den steten Nachrichten ihrer Friends und versuchte sich im Raum zu orientieren: Einer hatte gerade einen Café Latte getrunken, eine las eine Zeitung von gestern, einer beobachtete nur die Menschen um ihn herum. Sie blickte sich um und entdeckte tatsächlich einen älteren Mann, der sie aus der Dunkelheit seines Sessels zu beobachten schien. Zögernd machte sie einen Schritt auf ihn zu und er lächelte ihr freundlich entgegen. Sein Name sei Luis, sagt er ihr, als sie in guter Hördistanz war. Sie musste lachen und dieses Mal passte das Lachen zu ihrer Stimmung. Sie erinnerte sich an die Geschichte von Luis und Alice und sagte ihm auch ihren Namen. Er habe schon gehört, dass eine neue angekommen sei, sagte ihr Luis. Ob sie ein Stück von seinem Vanille-Kuchen haben möchte, fragte er sie dann. Noë war erstaunt aber auch erfreut: Luis war also ihr Kuchen-Friend und er hatte nicht nur erzählt, dass er einen Kuchen backen wolle, er hat es dann offenbar auch wirklich getan. Und der Kuchen, dass musste Noë zugeben, war wirklich lecker. Sie likete den Kuchen und gratulierte Luis vor allen Friends.
Luis fragte Noë, ob sie denn auch gerne backe. Noë wusste es gar nicht, denn sie hatte ihre Küche noch gar nicht ausprobiert. Luis lachte und sagte, dass sie das schon irgendwie schaffen werde. Er sprach ihr Mut zu und bot ihr ausserdem an, ihr zu helfen, falls sie nicht weiterkomme. Sie wisse ja, wie sie ihn erreichen könne. Dann fragte er aber noch weiter, was denn ihre Interessen sein. Bis jetzt habe sie vor allem gelesen, alles mögliche, Geschichten, aber auch Geschichte, die Geschichte der Erde und der Menschheit. Und heute habe sie auch Zeitung gelesen. Ob er auch gerne lese, fragte sie Luis. Er antwortete, dass er durchaus auch ab und zu lese. Auch die Zeitung. Vor allem Berichte über neue Technologien.
Noë gab sich einen Ruck und erzählte ihm von dem Artikel zum Klimawandel, den sie eben in der Zeitung gelesen hatte. Luis war aber noch ratloser als Noë. Sie wusste sehr viel mehr über die Erde und das Ökosystem. Immerhin hörte er ihr aufmerksam zu. Aber auch er wusste nicht, wie man den Artikel einordnen könnte. Wenn sich das Klima erwärmte, dann war das eben so. Luis konnte sich nicht erinnern, dass das Klima mal kühler gewesen wäre. Und er empfand die Temperatur jetzt auch nicht als zu warm. Und wenn sich die Welt verändern wollte, dann verändere sie sich halt. Luis hatte sogar die These, dass sich die Menschen vielleicht mit dem Klima veränderten und dass sie darum diese Erwärmung gar nicht spürten. Und dass alles miteinander in Einklang stehe. Noë musste zugeben, dass das eigentlich eine sehr gute Erklärung war und dass die Klimaerwärmung vielleicht sogar eine ganz gute Sache sein konnte.
Luis sagte, ein weiterer Vorteil sei auch noch, dass man sich bei dem warmen Wetter auch mal nach draussen setzen könnte. Als ihn Noë fragend anblickte, wies er mit der Hand in einen Winkel des Cafés und dort erkannte Noë nun eine Türe und dahinter wohl eine Terrasse. Sie stand auf und trat hinaus. Auch hier standen Tischchen und Sessel, teilweise lagen Wolldecken herum. Noë trat an die Brüstung des Geländers und schaute in den Innenhof hinunter. Sie konnte einen kleinen Buchladen erkennen, der vor dem Schaufenster eine kleine Auslage mit aktuellen Büchern liegen hatte. Und auf der anderen Seite sah sie einen Kiosk mit Zeitungen und Zeitschriften. Sie freute sich: So schnell würde ihr also auch hier der Lesestoff nicht ausgehen. Sie stutzte kurz. Aber bevor sie den Gedanken erfassen konnte, der in ihr aufgeblitzt war, war er auch schon wieder entwischt. Sie lächelte Luis zu.
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