utopia – 25: ein durchbrochener kreis

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë erwachte am Morgen und wusste, sie war in ihrem Bett, in ihrer Wohnung. Sie wusste auch, dass ihr Wandbild nicht mehr im Wohnzimmer war. Und sie wusste noch eines: Sie wollte zurück in diesen fensterlosen Raum, sie wollte herausfinden, wie die Kiste funktionierte und was man damit machen konnte.

Sie stand auf, ging ins Wohnzimmer, blickte auf die makellos weisse Wand. Dann warf sie einen Blick auf den Tisch, wo eine sauber gefaltete Zeitung lag, wie frisch ab Druckpresse. Aus dem Regal holte sie den zusammengefalteten Stadtplan mit ihrem Inselbild. Sie hängte ihn ans Regal und holte aus der Küche die Beeren. Bevor sie zu malen anfing, schweifte ihr Blick noch einmal zur Zeitung, denn dort schimmerte ein Anrisstext golden.

Heute mit Spezialteil zur Erfindung mobiler Computer auf Seite 34.

Noë hatte eigentlich keine Lust, Zeitung zu lesen. Aber wie immer sog sie der goldene Schimmer förmlich an. Also stellte sie die Beeren noch einmal weg und schlug die Zeitung auf Seite 34 auf. Dort fand sich eine ganze Reihe von kleineren und grösseren Artikel und Abbildungen. Ein ganz kurzer Beitrag schimmerte golden.

13. Juni 2003
Zum 30. Jubiläum des Power-Symbols

Vor 30 Jahren erfand die International Electrotechnical Commission unter der Nummer IEC 60417-5009 das Symbol für den Standbymodus: Ein Kreis, der durch eine Linie unterbrochen wird (siehe Abbildung). Das Zeichen wurde vom Institute of Electrical and Electronics Engineers umdefiniert und steht heute allgemein für Power oder eben dafür, dass man Geräte mit diesem Knopf einschalten kann.

utopia powersymbol, ©saschademarmels

Noë schüttelte den Kopf. Dann ging sie aber doch kurz in die Küche zurück, öffnete den Kühlschrank, wo sie etwas Käse, Fleisch und Butter fand. Eine Flasche Milch. Zwei kleine Zucchini. Das oberste Regal war leer. Im oberen Rahmen des Kühlschrankes aber fand sie eine Anzeige, die blinkte grün: 5°C. Und davor war ein fast flacher Knopf mit einem Bild eines Kreises, der von einer Linie unterbrochen wurde. Sie berührte den Knopf. Das blinkende Zeichen erlosch und auch das Licht im Kühlschrank ging aus. Sie drückte noch einmal auf den Knopf, das Licht ging wieder an und das Zeichen blinkte wieder auf, allerdings jetzt mit 6°C. Sie drückte den Knopf noch einmal und alles wurde wieder dunkel. Noë liess die Türe wieder zufallen und ging zurück ins Wohnzimmer.

Sie wusste nicht so recht, was sie mit der Information anfangen sollte. Aber sie wusste, dass sie noch die Flüchtlinge auf die Wand malen wollte. Denn wer weiss, wenn sie sie immer wieder aufmalte, vielleicht blieb das Mus doch irgendwann kleben. Und vielleicht konnten dann die Flüchtlinge ihre rettende Insel irgendwann einmal wirklich erreichen. Also zermantschte sie die Beeren und begann mit dem Mus zu malen.

Irgendwie war sie aber nicht so richtig konzentriert, denn es zog sie zu dem fensterlosen Raum und zur warmen Matratze. Und zu dieser Kiste. Vielleicht, vielleicht war da ja irgendwo dieses Power-Symbol zu finden? Schnell strich sie das Mus an die Wand. Die Flüchtlinge, eingehüllt in Stoffe, die Wellen, mehr im Boot als ausserhalb. Das Boot selber sah verlotterter aus als je zuvor. Einer der Flüchtlinge schien halb tot zu sein und fiel fast aus dem Boot heraus. Das Mus war alle, Noë stellte die Schale auf den Tisch und ohne sich noch vorher die Hände zu waschen legte sie sich die Hand an die linke Schläfe, dachte an den Raum und die Kiste und ihr Auge begann zu zucken. Sie presste die Augen zusammen und als sie sie wieder öffnet, liegt sie tatsächlich auf der warmen Matratze im fensterlosen kleinen Raum. Noës Herz rast.

Sie hält sich die Hand vors Gesicht und saugt die Luft ein. Wieder riechen ihre Finger süsslich. Wie die Matratze. Nicht unangenehm, eher sauber, vielleicht etwas medizinisch. Das Beerenmus zwischen den Fingern ist verschwunden. Ihre Hände sind sauber. Sie setzt sich langsam auf, erinnert sich daran, dass ihr gestern etwas schwindlig war und versucht, sich langsamer zu bewegen. Langsam aufzustehen. Die Beine zu belasten. Obwohl sie doch am liebsten geradezu aus dem Bett springen würde. Sie berührt mit der Zehenspitze den Boden, der sich rau anfühlt. Warm, aber nicht zu warm. Angenehm. Sie spürt einen kleinen Luftzug, obwohl doch kein Fenster da ist. Sie fährt mit der Zehenspitze dem Teppich entlang und hört ein ganz feines Kratzen. Und plötzlich muss sie Gähnen und sich strecken und recken. Und sie hört, wie ihre Knochen knacken und sie spürt ihre Muskeln. Und sie fühlt sich so richtig wohl und zufrieden.

Aber auch gespannt. Denn jetzt wird sie gleich entdecken, ob sich die Kiste mit einem Power-Knopf in Betrieb setzen lässt. Sie geht zum Tisch, setzt sich, weil sie noch immer etwas wackelig auf den Beinen ist und hebt die Kiste an. Sie dreht sie noch einmal rundherum und betrachtet sie aufmerksam. Aber sie findet keinen Power-Knopf. Darum klappt sie die Kiste wieder auf und betrachtet noch einmal sorgfältig das Innenleben, die Tastatur mit den Zeichen, den Rahmen und tatsächlich, da findet sie das Power-Symbol, genau so wie im Kühlschrank.

Sie drückt darauf und sofort blitzt die aufgeklappte Seite. Es erscheinen Buchstaben und Zeichen, die langsam den schwarzen Bildschirm füllen. Noë versucht zu lesen, aber die Zeichen sind keine Worte, keine Sätze. Es scheint sich eher um eine Art Code zu handeln. Die Kiste surrt und dann piepst sie und der Hintergrund verändert sich, wird hell. Vor einem blauen Hintergrund bauen sich verschiedene Symbole auf, Namen, und zuletzt erscheint eine kleine grüne Weltkugel. Eine neue Welt steht zur Entdeckung bereit. Doch was jetzt? Wie soll sie jetzt in diese Welt gelangen? Was soll sie mit diesem neuen Bild in der Kiste machen?

Noë verschiebt die Kiste ungeduldig, ob sich die Symbole vielleicht durch Schütteln verschieben lassen? Da fährt ein weisser Zeiger über den Bildschirm. Sie rüttelt noch einmal an der Kiste. Aber es passiert nichts mehr. Sie nimmt die Kiste in beide Hände und während sie sie zu sich zieht, bewegt sich der Zeiger und sie merkt, dass es irgendetwas mit dem ovalen Ding zu tun haben muss, dass mit einem Kabel an der Seite der Kiste befestigt ist. Sie greift danach und merkt, dass sie so den Zeiger steuern kann. Und noch etwas merkt sie: An dem Oval gibt es auch eine Taste. Sie klickt darauf, aber es passiert nichts. Sie fährt mit dem Zeiger auf die Welt und versucht es noch einmal. Der Hintergrund verändert sich. Es erscheint ein Text und Fragezeichen, die langsam verschwinden und durch Bilder ersetzt werden.


Die Welt, in der wir leben

20 Jahre ist es her: 20 Jahre seit dem Jahrhundertsturm Lothar, 20 Jahre seit dem Tod meines Vaters, dem tapferen Forstwart, der damals einer Familie das Leben gerettet hat und dabei selber dem Sturm zum Opfer gefallen ist. Manche würden sich vielleicht fragen, warum nur, warum nur hat er eine andere Familie gerettet und sich selber geopfert, wo er doch auch eine Frau und eine kleine Tochter zu Hause hatte.

Noë stutzt: Der Text kommt ihr bekannt vor. Hat sie ihn nicht schon einmal gelesen? In der Zeitung? Kann es sein, dass in der Kiste die ganzen Zeitungsartikel stecken? Sie schaut sich den Text im Bildschirm genau an. Oben ist ein Bild von einem Waldstück. Darin steht in grossen Buchstaben: „Die Welt in der wir leben — Blog von Jara Vester Kaufmann“. „Jara Vester Kaufmann“ ist in einer anderen Schriftfarbe gedruckt. Als sie mit dem Zeiger darüber fährt, veränderte er sich und wird zu einer Hand. Noë klickt mit der Taste und das Bild verändert sich. Zu sehen ist eine Frau mittleren Alters mit langen Haaren und freundlichen Augen. Sie sieht irgendwie traurig aus, ernst. Neben dem Bild erscheint ein Text.

Jara Vester Kaufmann studierte Geografie und spezialisierte sich auf Klimatologie. Als Geografie-Fotografin versucht sie mit Bildern der Klimaveränderung auf die Spur zu kommen. Sie arbeitet beim Klima-Unternehmen ecocyb. Jara ist Mutter von zwei Kindern. Sie fotografiert auch gerne in ihrer Freizeit, Landschaften aber auch Details.

Noë betrachtet noch einmal das Bild der Frau. Irgendwie kommt sie ihr bekannt vor. Aber es fällt ihr nicht ein, woher sie sie kennen könnte. Es muss lange her sein, dass sie sie gekannt hat. Wenn überhaupt. Vielleicht war ja damals beim Artikel in der Zeitung auch ein Bild gewesen?

Am linken Seitenrand sieht sie jetzt plötzlich weitere Wörter, die den Zeiger des Ovals in eine Hand verwandeln. Sie klickt wahllos auf das Wort „Wälder“ und vor ihr erscheinen andere Bilder und Texte.

Unser Wald hat schon einiges hinter sich. In den 1980er Jahren erregte das Waldsterben hohe Aufmerksamkeit. Saurer Regen und der Borkenkäfer schafften es, den Wald immer wieder in die Medien zu bringen. Aber hat dies auch etwas bewirkt, wenn wir uns anschauen, wie wir seither mit dem Wald umgehen?
Durch die Klimaveränderung wird sich die Waldgrenze in höhere Lagen verschieben. Wenn das zu schnell geschieht, können sich die Bäume nicht richtig anpassen und werden absterben. Das Klima wird trockener werden und damit steigt auch die Waldbrandgefahr.
Der Wald übernimmt aber eine wichtige Schutzfunktion, beispielsweise bei Erdrutschen und Lawinen. Das heisst, wir sind vom Wald abhängig. Und wir brauchen den Wald auch ökonomisch: Wir sind auch im Plastikzeitalter noch auf Holz angewiesen. Auf qualitativ hochwertiges Holz.
Bereits heute hat sich die Durchschnittstemperatur um fast zwei Grad erhöht. In der Klimaforschung geht man von weiteren zwei Grad in den nächsten fünfzig Jahren aus. Und bereits heute haben sich die Waldlandschaften gelichtet, die Wälder massgeblich verkleinert (vgl. Vergleichsbilder unten).
Wenn wir uns auch in Zukunft noch auf unsere Wälder verlassen möchten, dann müssen wir unverzüglich handeln.

Noë schaut sich die Bilder an. Bäume, dicht und grün, teilweise braun. Landschaften von oben, mit grossen Waldflächen, dazwischen Wiesen. Flüsse. Seen. Und dann ähnliche Bilder, mit ähnlichen Flüssen und Seen, aber mit viel kleineren Waldstücken. Bilder von abgebrochenen Bäumen, hohle Stämme, verfaulte Blätter. Umgeknickte Stämme, wie Zündhölzer kreuz und quer übereinander gestapelt. Darunter entdeckt sie einen weiteren Text:


wie lange noch?

dein blätterdach

begrüsst mich rauschend

kühl und schützend

sicher geborgen

im frühling frisch und hell erstrahlt

im sommer dunkel und beschützend

im herbst bunt treibend

im winter kontrastiert

schutz nicht nur für mich

für tiere und pflanzen

wie lange noch

dürfen wir

auf dich zählen

haben dich längst aufgegeben

nutzholz und

schutzholz

gehst dahin

verendest

wo du doch

so viel

für uns

getan

und unsere kinder

schutzlos

sie dir

du ihnen

ausgeliefert

06. Juni 2017


Noë atmet schwer aus. Das Gedicht und die Bilder, die Gedanken zum Waldsterben und zur Klimaveränderung, das alles bedrückt sie irgendwie. Sie schaut sich noch einmal die ersten Bilder an, die schöne Waldstriche zeigen. Blühende Bäume. Sie fasst sich mit der Hand an die Schläfe, presst die Augen zusammen, aber nichts geschieht. Ihr linkes Auge zuckt nicht und sie kann sich nicht in diese andere Welt, an diesen anderen Ort versetzen. Erschöpft legt sie sich auf das Bett und schliesst für einen Augenblick die Augen.

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