utopia – 24: eine viereckige insel

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë zweifelte nur kurz daran, ob sie das Bild wirklich gemalt hatte oder ob sie wieder nur geträumt hatte. Sie fand auf den ersten Griff den zusammengefalteten Stadtplan im Regal und auf der Rückseite ihre Insel mit Sandstrand, Wasserfall und Bäumen.

Sie war frustriert, weil sie auf einmal das Gefühl hatte, sie komme so gar nicht weiter in ihrem Leben. Sie treten an Ort. Sie könne sich nicht weiterentwickeln. Sie war irgendwie gelangweilt. Früher hatte sie viel Spass am Lesen gehabt. Sie war neugierig gewesen. Aber in letzter Zeit hatte sich in ihr ganz stark bemerkbar gemacht, wie eingeschränkt sie doch war in dieser Welt mit dem immer gleichen, gleichmässig graublauen Himmel und den Hausfassaden, Hauseingang an Fenster an Hauseingang an Fenster. Und mit einer Zeitung, die auf magische Weise erschien und wieder verschwand und deren Inhalte sie nicht so richtig nachvollziehen konnte. Und deren Lektüre in ihr, wenn überhaupt, höchstens Fragezeichen hinterliess.

Wieso nur, dachte sie, war sie so gelangweilt. Hatte sie doch erst eben eine ganz neue Umgebung entdeckt, den Park und den Aussichtspunkt auf dem Hügel. Wobei letzterer ihr irgendwie unangenehm war, mit dem Blick auf die Häuserfronten. Ohne die Hoffnung, dass ihr Wandgemälde die nächste Nacht überleben würde, holte sie sich die Beeren aus dem Kühlschrank und malte mit dem Mus das Flüchtlingsboot mit den Menschen im Wind und in den Wellen. Sie hängte ihnen ihre Insel in greifbare Nähe, im Wissen darum, dass das Boot dieses Paradies nie würde erreichen können. Dann setzte sie sich auf die Sofakante und betrachtete ihr Werk intensiv. Sie hob ihre Hand an die Schläfe: Gestern hatte das doch ganz gut funktioniert, dass sie sich von einem zum anderen Ort hatte zwinkern können. Sie presste die Augen zusammen und wünschte sich auf ihre Insel oder ins Flüchtlingsboot. Aber das Zucken blieb aus.

Sie versuchte sich zu entspannen. Sie atmete tief durch. Sie schloss die Augen und lauschte ihrem Atem. Dann versuchte sie noch einmal, sich in ihre Bilder zu versetzen. Aber es gelang ihr nicht. Das Regengedicht viel ihr ein, sie holte sich den Gedichtband und schlug ihn an der entsprechenden Stelle auf. Sie las das Gedicht laut und atmete dabei ruhig.


gefühl von regen

sonne weg

dicke wolke

luft noch warm

bleibe liegen

einfach so

warten auf das gefühl von regen

erste tropfen

fallen sacht

schlagen klatschend auf

liege da

denke nichts

ausser gefühl von regen

schwere tropfen

immer mehr

warmes wasser

wasser auf meinem gesicht

spüre nichts

ausser gefühl von regen

regen

wasser

warmer boden

wasser

rinnt mir über die haut

erweckt in mir das gefühl von regen

18. Juni 1994


Sie versuchte sich ganz fest vorzustellen, wie sich das anfühlen würde, wenn einem Regen über das Gesicht rann. Sie versuchte zu fühlen, zu riechen, zu spüren, wie das wäre, wenn sie im Regen stünde. Und sie atmete ganz ruhig dabei, schloss die Augen. Dachte an die Flüchtlinge, an das Boot und die Insel. Und sie spürte, wie es in ihrem linken Auge anfing zu zucken. Intuitiv legte sie sich die Hand an die Schläfe und wünschte sich Geborgenheit.

Als sie die Augen öffnet, ist Noë erst erstaunt, dann masslos enttäuscht. Schnell macht sie die Augen wieder zu. Aber dann öffnet sie sie doch wieder. Sie befindet sich in einem kleinen, fensterlosen Zimmer. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Dieses Zimmer passt weder auf ihre sonnige Insel noch auf das Flüchtlingsboot. Und dass es keine Fenster hat, erweckt in ihr sofort das Gefühl, dass sie hier gefangen ist.

Sie beginnt darüber nachzudenken, warum sie wohl bestraft wird. Vielleicht, weil sie unzufrieden ist mit ihrer Welt? Weil sie nicht mehr so gerne Bücher liest? Oder gar, weil sie überhaupt hat angefangen zu lesen? Weil sie die Zeitung gelesen hat? Oder die Gedichte? Hat sie sich vielleicht zu wenig mit ihren Friends beschäftigt, zu wenige ihrer Nachrichten geliket? Oder selber zu wenige Nachrichten geschrieben? Oder ist es vielleicht eine Bestrafung dafür, dass sie angefangen hat, sich an andere Orte zu zwinkern?

Noë kommt fast nicht mehr von diesen Gedanken los, sie halten sie fest, zerren an ihr. Dabei gibt es hier vielleicht etwas zu entdecken. Denn auf dem Tisch steht eine seltsame, sehr flache Kiste. Und in der Wand befindet sich eine Art Schranktüre. All das beobachtet sie, auf dem Bett liegend. Das Kopfende dieses Bettes ist leicht erhöht, so dass sie den Raum gut überschauen kann. Die Matratze ist angenehm warm. Noë spürt die Wärme. Und sie spürt auch die Oberfläche der Matratze. Sie fühlt sich nicht nur warm an, sondern irgendwie lebendig. Noë hat das Gefühl, als ob die Matratze auf Berührung reagiert. Sie gibt einen Gegendruck.

Noë hält sich ihre Hand ganz nahe vor ihr Gesicht. Sie berührt mit ihrem Finger die Nasenspitze. Das fühlt sich komisch an. Es kitzelt ein wenig. Und dann atmet sie tief ein und nimmt den Geruch ihrer Hand war. Sie riecht ein bisschen süsslich. Noë dreht sich auf den Bauch und riecht an der Matratze. Auch diese hat einen leicht süsslichen Duft. Sie legt ihre Wangen auf die Matratze, spürt auch dort die Wärme, die von ihr ausgeht. Und die etwas raue Oberfläche, nicht unangenehm, aber spürbar.

Vorsichtig setzt sie sich auf. Es wird ihr leicht schwindlig, aber nach ein paar Atemzügen beruhigt sich ihr Körper wieder. Langsam bewegt sie sich zur Bettkante und lässt die Beine vorsichtig herunter gleiten. Der Fussboden ist mit Teppich belegt. Sie spürt die feinen Häärchen des Gewebes an ihren nackten Füssen. Als sie aufzustehen versucht, geben ihre Beine erst nach. Sie lässt sich zurück auf die Matratze fallen. Dann startet sie einen neuen Versuch und beginnt erst ganz langsam ihre Beine zu belasten. Sie spürt die einzelnen Muskeln in ihren Füssen und Beinen. Sie spürt den Druck des Bodens.

Schliesslich steht sie auf und geht vorsichtig zum Tisch. Sie setzt sich auf den Stuhl, der davor steht und betrachtet neugierig die Kiste. Sie ist rechteckig, flach, vielleicht so hoch wie zwei Finger. Schwarz. Noë legt die Hand darauf. Das Material fühlt sich kühl an und ganz glatt. Sie fährt mit den Fingern dem Rand entlang. Und sie spürt deutlich, dass es da eine Kante gibt oder eine Ritze. Vielleicht konnte man die Kiste ja öffnen? Sie hält den oberen Teil der Kante fest und zieht mit einiger Mühe. Erst weiss sie nicht so recht, in welche Richtung sie die Kante bewegen muss, obwohl diese deutlich nachgibt. Die Kiste macht ein klickendes Geräusch. Schliesslich merkt Noë, dass sie die Oberkante nicht ganz wegnehmen kann, aber dass sich die Kiste wohl aufklappen lässt. Sie hält die obere Längskante also mit der einen Hand, die untere beschwert sie mit der anderen Hand und tatsächlich, so lässt sich die Kiste aufschlagen wie ein Buch.

Jetzt steht vor ihr eine aufgeklappte Kiste, die auch innen flach und schwarz ist. Auf der einen, der hochgeklappten Seite befindet sich eine Art Spiegel, denn Noë kann sich selbst darin erkennen, aber nur schwach. Als Aufklappspiegel taugt das Gerät vor ihr wahrscheinlich nicht. Auf der anderen, der liegenden Seite befinden sich ganz viele Buchstaben. Ein paar Zahlen und einige Satzzeichen. Noë berührt sie vorsichtig. Auch die Buchstaben fühlen sich kühl an und glatt. Sie lassen sich herunterdrücken. Aber nichts passiert. Vielleicht braucht man ein Passwort? Sie guckt sich die Tasten an und tippt dann: N — O — Hm. Wo ist denn das ë? Sie findet ein E und nach längerem Suchen findet sie auch noch zwei Punkte: ¨. Wahrscheinlich kann man die Zeichen irgendwie zusammensetzen. Aber sie durchschaut nicht, wie man das machen kann. Es passiert auch nichts. Sie drückt die Buchstaben, aber nichts tut sich mit der Kiste.

Noë gibt sich nicht so schnell geschlagen. Sie tippt alle Buchstaben und Zeichen der Reihe nach an. Anfangs wartet sie noch gespannt, ob etwas passiert, dann drückt sie die Tasten immer schneller. Aber die Kiste macht keinen Wank. Noë schliesst sie wieder, hebst sie auf und inspiziert sie von allen Seiten. Sie findet im hinteren Bereich einige Löcher und an einem hängt ein Kabel, das leuchtet. Es verschwindet hinter dem Tisch in der Wand. Ein weiteres Kabel hängt da, es führt von der Kiste zu einem kleinen Oval, das auch auf dem Tisch liegt.

Noë merkt, wie sie müde wird. Wie ihr die Beine und der Rücken weh machen. Ob sie sich kurz hinlegen soll. Sie schleppt sich die zwei Schritte zur Matratze zurück, legt sich hin und spürt sofort wieder die Wärme. Sie spürt ihren Herzschlag, etwas schnell aber nicht beunruhigend. Sie denkt an das Regengedicht und entspannt sich ganz fest. Die Augen fallen ihr zu. Als sie sie nach einer Weile wieder öffnete, lag sie in ihrem Bett, in ihrer Wohnung. Fahles Licht fiel durch die Gardinen. Ihr Herz schlug normal, die Temperatur war normal. Alles war immer gleich.

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