utopia – 17: ein zucken versetzt noë

[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]

Noë sass im Café Meetingpoint und versuchte ihren Vorsatz umzusetzen: Jemanden dafür zu gewinnen, mit ihr über irgendetwas zu diskutieren. Es musste doch möglich sein, sich mit jemandem vertieft über etwas auszutauschen.

Als sie am Morgen aufgewacht war, lag eine Zeitung auf dem Tisch, sauber gefaltet und wie frisch ab Druckpresse. Sie war in die Küche gegangen und hatte dann vorsichtig hinter der Küchentüre zurück auf den Tisch geblickt. Die Zeitung lag da. Sie war wieder ins Schlafzimmer gegangen und wieder ins Wohnzimmer. Die Zeitung lag immer noch da. Sie überlegte sich, ob sie ihr Glück herausfordern und sich ein Buch aus dem Regal nehmen sollte. Aber das traute sie sich dann doch nicht.

Was war ihr Problem mit der Zeitung? Das Problem war, dass die Informationen darin sehr kompliziert waren und sie nicht recht wusste, was sie damit anfangen sollte. Gleichzeitig wusste sie aber, sie wusste nicht weshalb, dass die Informationen wichtig waren. Sie hatte bisher niemanden gefunden, der ihr all das erklären konnte. Schlimmer noch, sie hatte nicht einmal jemanden gefunden, der überhaupt darüber sprechen wollte. Ausser Luis. Aber auch er schien ihr in der letzten Zeit eher distanziert zu sein, wenn sie mit ihren Themen kam.

Sie konnte aber versuchen, jemanden zu finden, der überhaupt mit ihr sprach. Über andere Themen. Und vielleicht konnte sie dann aus diesen Diskussionen auf ihre Themen schliessen. Oder sie konnte, ganz vorsichtig, ihre Themen nach und nach in andere Diskussionen einfliessen lassen. Und mit diesem Plan hatte sie sich aufgemacht zum Café Meetingpoint. Und dort sass sie jetzt, mit direktem Blick zur Tür. Und wartete, ob jemand eintreten würde, den sie zu sich winken könnte.

Und tatsächlich, nach einigen Minuten trat eine junge Frau ein und blickte sich suchend um, wahrscheinlich suchend nach einem freien Tisch, wobei das ja meist kein Problem war. Noë winkte ihr entschlossen und die Frau kam zögernd auf sie zu. Unter dem Arm hatte sie ein grosses Buch, dessen Titel Noë nicht entziffern konnte. Sie zeigte auf das Buch und fragte geradeheraus, was die Frau denn da lese. Sie sagte, es sei ein altes Buch, ein sehr altes Buch. Es sei der Atramchasis-Mythos, der vom Streit der Götter mit den Menschen erzähle. Die Götter hatten die Menschen erschaffen, damit sie selber nicht mehr arbeiten mussten. Die Menschen aber begannen sich zu vermehren und die Bevölkerung war bald so gross und laut, dass sich die Götter gestört fühlten. Sie schmiedeten daher Pläne, wie sie die Menschen wieder los werden könnten: mit Unwettern und Dürren und einer Sintflut. Durch verschiedene Listen schafften es die Menschen allerdings, immer am Leben zu bleiben und sich weiter zu vermehren. Am Ende aber regulierten die Götter die Fortpflanzung der Menschen und alle lebten wieder in Frieden.

Noë horchte auf. Das wäre doch eine Lösung für den Dichtestress und das Flüchtlingsproblem und die Wirtschaftskrise. Und es war auch eine Erklärung für die Klimaerwärmung und die Naturkatastrophen, die es deswegen gab. Die Götter waren zornig. Und die Lösung lag darin, dass die Menschen sich nicht mehr weiter vermehren durften. Und sie fragte die Frau, ob den die Lösung funktioniert hat und wie sie die Chancen heute einschätzte.

Plötzlich spürte Noë, wie ihr linkes Auge stark zu zucken anfing. Sie konnte es gar nicht steuern, die Muskeln verselbständigten sich und das Augenlid bewegte sich am Rande sehr schnell. Es begann ihr vor den Augen zu flimmern. Sie schloss die Augen, weil sie hoffte, dass das Zucken so aufhören würde. Als sie die Augen wieder öffnete, stand sie auf der Strasse, mitten in den immer gleichen Häusern mit Fenstern und Türen. Sie runzelte die Stirn. Wie war sie denn so plötzlich hier her gekommen? Wo war sie vorher gewesen? Sie konnte sich nicht richtig erinnern. Und weil sie sich draussen befand, tat sie, was sie dort immer tat, sie begann zu gehen, an den Fenstern und Türen vorbei, immer der schnurgeraden Strasse entlang.

Sie lauschte dem Rhythmus ihrer Schritte. Ihr Atem passte sich diesem Rhythmus an. Schritt, Schritt, Schritt, Schritt. Hauseingang an Fenster an Hauseingang an Fenster. Und während sie so ging, fiel ihr plötzlich die Atramchasis-Sage ein. Die Götter hatten die Menschen erschaffen, weil sie selber nicht mehr arbeiten wollten. Aber die Menschen hatten sich immer weiter vermehrt und die Götter fühlten sich beengt und der Lärm der Menschen war ihnen unerträglich. Und sie versuchten die Menschen loszuwerden, sandten Unwetter und Dürren und Fluten. Aber die Menschen konnten sich immer retten. Und erst am Schluss merkten die Götter, dass sie die Fortpflanzungsfähigkeit der Menschen einschränken mussten und dass dann alles gut würde. Und Noë überlegte, wo sie davon gelesen hatte. Und da erinnerte sie sich, dass sie das gar nicht selber gelesen hatte, sondern dass ihr eine Frau davon erzählt hatte.

Gedankenverloren ging sie weiter der Strasse entlang, als ihr linkes Auge zu zucken anfing. Sie konnte es gar nicht steuern, die Muskeln verselbständigten sich und das Augenlid bewegte sich am Rande sehr schnell. Es begann ihr vor den Augen zu flimmern. Sie schloss die Augen, weil sie hoffte, dass das Zucken so aufhören würde. Als sie die Augen wieder öffnete, sass sie auf dem Sofa in ihrer Wohnung. Etwas erstaunt überlegte sie, wie lange sie schon da sass und was sie davor gemacht hatte. Wahrscheinlich war sie leicht eingenickt und dann plötzlich aufgewacht. Aber was hatte sie auf dem Sofa getan? Gelesen hatte sie nichts, sie hatte weder die Zeitung noch ein Buch in den Händen.

Sie rieb sich am linken Auge, die Muskeln dort schienen leicht angespannt zu sein. Und als sie sie mit der Hand vorsichtig befühlte, hatte sie das Gefühl, dass sie vorher nicht auf dem Sofa gesessen hatte, sondern in der Strasse gegangen war. Erst kam ihr das seltsam vor, dass sie sich urplötzlich an einem anderen Ort befinden sollte. Aber dann kam eine weitere Erinnerung, an einen weissen Raum. Und auf einmal war es nicht mehr seltsam, dass sich ihr Körper unwillkürlich in der Welt verschob. Es war ihr schon einmal passiert, vielleicht sogar schon ein paar Mal. Also war es in Ordnung, alles war normal. Nichts aussergewöhnliches ging vor sich. Sie war beruhigt.

Sie sass auf dem Sofa und versuchte sich zu erinnern, woran sie gedacht hatte, da auf der Strasse. Und langsam tauchte vor ihrem inneren Auge ein Bild auf von lärmenden Menschen und von Göttern, die in ihrer Ruhe gestört wurden. Und die Götter veranlassten die Klimaerwärmung mit vielen Naturkatastrophen um die Menschen auszurotten, aber diese konnten sich immer wieder retten. Bis die Götter die Fortpflanzung der Menschen einschränkten. Danach gab es wieder genug Platz in der Welt.

Das war ja wie der Dichtestress aus der Zeitung und die Flüchtlinge, die vor Naturkatastrophen flohen. Und sobald sie das dachte, fiel ihr wieder die Frau ein, die ihr im Café Meetingpoint vom Atramchasis-Mythos erzählt hatte und die sie gerade fragen wollte, ob sie einen Zusammenhang zu den Flüchtlingen sehen würde. Noë beschloss, schnell ins Café Meetingpoint zu gehen, denn vielleicht war die Frau ja noch dort und sie konnten das Gespräch weiterführen. Sie machte sich sofort auf den Weg, aber als sie dort ankam, war die Frau nirgends mehr zu sehen. Noë wusste auch nicht, wie lange sie weg gewesen war. Sie sah aber an einem der Tische Luis sitzen und setzte sich zu ihm.

Luis erzählte ihr, dass er am Morgen selber ein Brot gebacken habe. Sie fragte ihn, ob er eine junge Frau mit einem grossen Buch gesehen habe. Er verneinte aber. Als er gekommen sei, sei das Café mal wieder leer gewesen. Noë musste ihre Strategie überdenken: Luis jetzt den Atramchasis-Mythos zu erklären schien ihr zu kompliziert. Sie würde die Frau suchen und sie würde sie auch wiederfinden. Aber jetzt war Luis da und sie wollte mit ihm eine andere Diskussion starten. Also fragte sie ihn, ob er denn in letzter Zeit etwas interessantes gelesen hätte. Sie erinnerte sich, dass er ihr einmal erzählt hatte, dass er Berichte über neue Technologien mochte.

Luis nickte. Ja, er habe einen interessanten Bericht gelesen über eine Fernbedienung, mit der man sich Sachen bestellen könnte. Wenn man beispielsweise ein bestimmtes Buch lesen wollte, oder wenn man beim Kochen bemerkte, dass einem eine Zutat fehlte, dann könnte man einfach auf einen Knopf drücken und das gewünschte wurde einem sofort geliefert. Dorthin, wo man sich gerade befand. Das klang sehr nützlich. Insbesondere, weil die Fernbedienung auch den aktuellen Ort weitergeben konnte. So wussten die Lieferanten auch immer, wo man war und die Lieferung verfehlte einen garantiert nicht.

Noë spürte, wie ihr linkes Auge zu zucken anfing. Sie konnte es gar nicht steuern, die Muskeln verselbständigten sich und das Augenlid bewegte sich am Rande sehr schnell. Es begann ihr vor den Augen zu flimmern. Sie schloss die Augen, weil sie hoffte, dass das Zucken so aufhören würde. Als sie die Augen wieder öffnete, stand sie auf der Strasse, direkt vor dem Eingang zum Café Meetingpoint. Sie war etwas erstaunt, sie konnte sich nicht erinnern, wie sie dahin gekommen war. Aber offenbar wollte sie ins Café, sonst hätte sie sich wohl kaum auf den Weg dahin gemacht. Also trat sie ein und ging die Treppe hoch.

Als sie in den Raum mit den Sesseln und Tischen kam, sah sie Luis, der ihr mit fassungslosem Gesicht zuwinkte. Sie ging auf ihn zu und er platze sofort heraus, wie sie das gemacht hätte. Sie verstand nicht. Urplötzlich sei sie weg gewesen, einfach so. Zack, verschwunden. Sie schüttelte den Kopf. Das konnte sie sich nicht vorstellen. Sie verschwand doch nicht einfach. Luis musste geträumt haben. Vielleicht war er eingeschlafen. Aber Luis beharrte darauf, sie hätte mit ihm am Tisch gesessen und sie hätten geredet über eine neue Technologie, eine Fernbedienung, mit der man sich Dinge bestellen konnte. Und dann sei Noë von einem Augenblick auf den nächsten einfach verschwunden gewesen. Noë erinnerte sich an das Gespräch über die Fernbedienung. Aber sie wusste nicht, wie es geendet hatte. In ihrer Erinnerung war es einfach plötzlich abge

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