[Dieser Beitrag gehört zum Roman „Utopia“. Der Roman erscheint im Blog in loser Reihenfolge. Der Beginn findet sich hier.]
Noë hatte viele Gedanken in ihrem Kopf, Gedanken, die sie der Welt nicht richtig anschliessen konnte. Sie wusste nicht, wie das, was sie täglich in der Zeitung las, zu ihrem wirklichen Leben passte. Sie konnte darum die Gedanken auch nicht richtig ordnen.
Es schien ihr, als passierte das, was in der Zeitung stand, in einer anderen Welt, als wären diese Geschehnisse nicht Teil ihres Lebens. Und es machte ihr Mühe, sich in dieser Komplexität zurecht zu finden, denn es fehlte ihr der Bezug, es lag eine unendliche Distanz zwischen ihr und den Dingen. Gleichzeitig kam es jedes Mal wie eine Sucht über sie: Sobald sie die Zeitung sah, zog der goldene Schimmer sie an. Sie konnte gar nicht anders, als die Artikel in der Zeitung zu lesen. Sie hatte es versucht, hatte versucht, dieser Flut an Informationen zu entgehen. Aber es war unmöglich. Sie hatte nicht genug Kraft.
Sie überlegte: Wie könnte sie der Zeitung widerstehen? Was würde ihr die nötige Kraft geben? Sie versuchte sich zu erinnern, was sie denn früher sonst noch getan hatte, ausser zu lesen. Aber sie konnte sich nicht erinnern, dass es jemals anders war. Soweit sie wusste, lebte sie immer schon in ihrer Wohnung in dem Haus in der Strasse mit den immer gleichen Häusern. Und sie hatte immer schon gelesen. Gerne gelesen. Sie musste lachen. Sie schüttelte den Kopf, versuchte das Lachen abzuschütteln, aber es gelang ihr nicht. So musste sie auch das Lachen aushalten.
Als es verebbt war, wusste sie nicht mehr, wo sie zuvor noch mit ihren Gedanken gewesen war. Sie blickte auf die Zeitung vor ihr. Bewusst liess sie sie auf dem Tisch liegen und machte sich auf ins Café Meetingpoint. Sie wollte noch einmal versuchen, mit einigen ihrer Friends in eine Gespräch zu kommen. Über das Klima, die Wirtschaft, über irgendwas. Sie würde sich auch auf ein Gesprächsthema einlassen, dass ihre Friends wählten. Aber sie wollte sich mit jemandem austauschen. Vielleicht war wenigstens Luis da. Vielleicht konnten sie die anderen gemeinsam in ein Gespräch verwickeln.
Luis war da. Kurz bevor sie das Café erreicht hatte, hatte er geschrieben, er geniesse heute seinen Kaffee auf der Terrasse des Meetingpoint und ob ihm nicht jemand Gesellschaft leisten wollte. Viele Friends hatten dazu applaudiert und ihm Bilder von Kaffeetassen und Terrassen geschickt. Noë aber war zu ihm hinaus auf die Terrasse getreten und hatte ihn angelächelt und er hatte zurück gelächelt und hatte ihr gesagt, dass er doch gewusst habe, dass sie persönlich erscheinen würde. Sie hatten sich zusammen an einen Tisch gesetzt und in den Innenhof geschaut.
Später war eine Frau hinzugekommen. Sie war ganz überrascht gewesen, dass da wirklich zwei Menschen auf der Terrasse sassen und Kaffee tranken. Sie hatte sich zu ihnen gesetzt und Noë wollte schon anfangen sie auszufragen, als ihr etwas bewusst wurde: Sie war zwar interessiert daran, wer diese Frau war, aber falls sie ihrerseits Noë Fragen stellen würde, was sollte sie ihr nur antworten? Ihr Leben verlief in immer gleichen Bahnen: Sie wohnte in ihrer kleinen Wohnung in einer der immer gleichen Strassen. Sie las viel. Aber sonst? Sie konnte sich an nichts anderes erinnern und hätte also nichts zu erzählen gehabt aus ihrem Leben. Und darum bremste sie sich dann doch und stellte keine persönlichen Fragen.
Zaghaft begann sie darum mit dem Thema Klimawandel: Ob die Frau auch schon davon gehört habe. Oder von den Flüchtlingen. Von der Wirtschaft. Die Frau hatte nicht. Aber sie hatte kürzlich etwas über Tiere gelesen und dass diese sehr gestresst waren, wenn sich ihre Umwelt veränderte. Beispielsweise, wenn irgendwo eine Strasse gebaut wurde, nahe eines Waldes, dann kamen die Waldtiere in Dauerstress. Sie wollten fliehen, aber sie wüssten nicht wohin. Und teilweise käme der Lärm auch aus allen Richtungen und das verwirre die Tiere zusätzlich.
Noë lauschte. Luis und die Frau schauten sie an und verstanden erst gar nicht, was sie da machte. Noë erklärte ihnen, dass sie schon lange keinen Lärm mehr gehört habe. Es sei immer sehr still. Das einzige, was sie regelmässig höre, seien die Stimmen ihrer Friends. Aber sonst, sonst sei ihr noch nie ein Geräusch aufgefallen, geschweige denn Lärm. Die beiden anderen begannen auch zu lauschen und stimmten ihr zu: Es war ganz still in der Welt.
Noë warf die Frage auf, ob diese Stille vielleicht etwas mit dem Klimawandel oder mit den Flüchtlingen zu tun haben könnte. Vielleicht waren die Flüchtlinge aus der Welt geflüchtet, weil sie zu laut war. Oder wegen dem Klimawandel. Die Frau schüttelte verständnislos den Kopf und konnte Noë nicht folgen. Sie sähe weder einen Klimawandel noch Flüchtlinge. Noë aber gab zu bedenken, ob es denn der Frau nicht seltsam vorkomme, dass kaum jemand in der Stadt zu sehen sei, wo es doch so viele Häuser gäbe. Und dass doch all diese Menschen irgendwo sein müssten. Aber die Frau fand es nicht seltsam. Viel eher fand sie Noë seltsam, mit ihrem mühsamen Fragen und Geschichten.
Luis sagte nichts dazu. Wahrscheinlich war er sich ihre komplizierten Gedanken schon gewohnt. Die Frau aber hatte offenbar keine Lust mehr auf ein Gespräch und verabschiedete sich. Noë und Luis sassen schweigend da. Schliesslich sagte Luis, Noë dürfe das nicht persönlich nehmen. Menschen seien eben verschieden und machten sich verschiedene Gedanken. Und es sei ja eigentlich auch das Recht von jedem, sich gewisse Gedanken nicht zu machen. Noë schwieg und nach einer Weile verabschiedete sich auch Luis und ging weg.
Noë sass da, am Tisch im Café auf der Terrasse. Sie blickte in den Hof, der leer war. Sie blickte auf die anderen Tische, die leer waren. Und in ihr formte sich wieder ein Lachen und sie lachte und lachte und lachte. Sie sass da und hielt es einfach aus, liess es über sich ergehen. Sie wusste nicht, wie lange sie da schon sass und lachte. Das Licht änderte nie. Als das Lachen verebbt war, sass sie weiterhin einfach da, starrte in den Hof. Völlig in sich versunken.
Als sie irgendwann wieder aufblickte, lag vor ihr eine Zeitung. Sie war nicht überrascht. Sie schlug die erste Seite auf und unter der Überschrift „Vermischte Meldungen“ fand sie einen Haufen an Kurzmeldungen zu aktuellen Geschehnissen.
12. Februar 2014
Lärm als Hauptursache für psychische Störungen
Das Lärmorama Zentrum für Lärmerkranungen LZL veröffentlicht in seiner neusten Statistik die Zahlen der Lärmkranken. Zwischen 40 bis 50% der psychischen Belastungsstörungen lassen sich demnach auf Lärm zurückführen. Meist sind erste Symptome Nervosität oder Angespanntheit, hinzu kommen insbesondere bei nächtlichem Lärm auch Müdigkeit. Das kann zusammen zu aggressiven Ausbrüchen führen, aber auch zu körperlichen Krankheiten wie Bluthochdruck oder Herz-Kreislauf-Krankheiten. Ebenso wird die Konzentrationsfähigkeit und das Leseverständnis geschwächt.
8. Mai 2015
Kaffeetrinken für die Einvernehmlichkeit
Bei einem Einsatz in einem Wohnquartier fand die Polizei gestern völlig unerwartet ein Todesopfer in seiner Wohnung vor. Der Sprecher der Polizei bestätigt, dass sich das Opfer bereits in der vergangenen Woche mit der Polizei über einen Notruf in Verbindung gesetzt hatte. Als das Einsatzkommando damals in der Wohnung eintraf, gab der jetzt Verstorbene zu Protokoll, von einem Nachbarn mit dem Tod bedroht worden zu sein.
Bei Einsätzen an Freitagabenden müsse die Polizei gut selektieren und da es sich lediglich um eine mündliche Drohung ohne tätlichen Angriff gehandelt habe, habe man dem Opfer geraten, sich mit dem Nachbarn zu einem Kaffee zusammen zu setzen um so die unterschiedlichen Ansichten zu diskutieren. Die Polizisten seien davon ausgegangen, dass das Opfer sich an diesen Ratschlag gehalten habe und das Problem nun gelöst sei. Als der bedrohte Mann nach einer Woche das Einsatzprotokoll nicht unterschrieben zurückgesandt habe, hätte man ihn ins Präsidium vorgeladen und weil er nicht vorstellig wurde, habe man ihn in seiner Wohnung aufgesucht. Dort habe man ihn mit einem Messer zwischen den Rippen aufgefunden.
Es sei ihm unerklärlich, wie es zu diesem völlig überraschenden Ende gekommen sei. Normalerweise funktioniere das mit dem Kaffee immer gut, den Kaffee verbinde, gab der Leiter der Polizeistelle bekannt. Aber immer weniger Menschen hielten sich an den guten Rat der Polizei. Er sei mit seiner Weisheit langsam am Ende.
25. Dezember 2014
Die Welt, in der wir leben
20 Jahre ist es her: 20 Jahre seit dem Jahrhundertsturm Lothar, 20 Jahre seit dem Tod meines Vaters, dem tapferen Forstwart, der damals einer Familie das Leben gerettet hat und dabei selber dem Sturm zum Opfer gefallen ist. Manche würden sich vielleicht fragen, warum nur, warum nur hat er eine andere Familie gerettet und sich selber geopfert, wo er doch auch eine Frau und eine kleine Tochter zu Hause hatte.
Meine Mutter hat sich das nie gefragt. Sie hat zwar um ihn getrauert, sie hat es sich aber auch zur Aufgabe gemacht, nun selber aktiv zu werden. Damit der Tod ihres Mannes nicht vergebens war. Sie hat den "Verein zur Sensibilisierung auf die Klimaveränderung und zur Stärkung des Verantwortungsbewusstseins der Menschen" gegründet und sie hat seither ihre ganze Kraft in die Mission gesetzt, den Menschen bewusst zu machen, warum mein Vater sterben musste. Ich habe das immer an ihr bewundert. Sie war es auch, die mir den Weg zum Geographiestudium geöffnet hat. In eine Welt, die voller wundersamer Phänomene steckt, aber auch in eine Welt, die uns unsere Bedrohung vor uns selber tagtäglich aufzeigt.
Während mein Vater zum Opfer des Klimawandels wurde, wurde meine Mutter die Botschafterin, die unermüdliche Aufklärerin. Aber nicht nur der Klimawandel in der Natur, auch der Klimawandel in der Gesellschaft beschäftigt uns heute. Das menschliche Klima scheint nachzulassen. Und im Gedenken an meinen Vater wünsche ich mir, dass wir nicht nur Familien aus einstürzenden Wäldern retten, sondern auch vor uns selber. In Gedanken an meinen Vater wünsche ich mir, dass wir besser auf das Klima achten, mehr Umweltschutz betreiben und wieder sozialer miteinander umgehen.
13. Oktober 2013
Sie sind wieder da – Laubbläser als frohe Herbstboten
Alle Jahre wieder, wenn die Blätter zu fallen beginnen, beginnt zugleich auch ein knatterndes Tosen in unseren Ohren. Mit zahlreichen Laubbläsern machen Fachpersonen der Stadtreinigung sich auf den Weg um dem bunten Laubtreiben auf den Strassen ein Ende zu bereiten. Dabei werden nicht nur die Herbstblätter zu Haufen zusammengeblasen, zusätzlich werden auch die Mikroorganismen aufgemischt und mit frischem Sauerstoff versehen. So sind sie gewappnet um Pflanzenmaterial zu Erde zu verarbeiten. Spaziergängerinnen und Spaziergängern wird das Tragen einer Atemschutzmaske empfohlen, insbesondere bei geschwächtem Immunsystem.
Auch die Fachpersonen der Stadtreinigung tragen Atemschutzmasken – welche sie zusätzlich vor den giftigen Benzindämpfen schützen – und sind auch mit Ohrenschutz ausgestattet. Sie stehen durchschnittlich acht Stunden pro Tag in den Strassen und blasen Blätter und Abfall erst zwei Stunden hin und her und anschliessend koordiniert zu Haufen zusammen. Kommt ein Windstoss, beginnt das Spiel von neuem.
Eine Sprecherin der Stadtverwaltung sagt, dass sei die negative Seite des Fortschritts: Die alten Laubrechen seien mit den neuen Stromadaptern nicht mehr kompatibel. Aber den Angestellten mache die Arbeit dafür so viel mehr Spass.
26. August 2016
Streiterei an der Kasse
Die Polizei musste schon wieder bei einem Zwischenfall in einem Einkaufszentrum einschreiten. Eine ältere Frau hatte einen jungen Mann an der Kasse mit ihrer Handtasche verprügelt. Dieser hatte die Frau lediglich darum gebeten, ihre Einkäufe doch nebenan beim Selfscanning selber einzulesen und zu bezahlen. Darauf hin hatte die Frau zu schreien begonnen und sich wüst über den Abbau an Dienstleistung beklagt. Schliesslich hatte sie dem Mann ihre rote Lederhandtasche um den Kopf geschlagen.
Der Mann zeigte sich erschöpft und entgeistert. So habe er sich seinen letzten Arbeitstag nicht vorgestellt, sagte er unserer Reporterin vor Ort. Ab nächstem Montag ist er arbeitslos. Das Einkaufszentrum könne 10 Prozent seiner Kassiererinnen und Kassierer entlassen, bestätigt der offizielle Sprecher. Das Selbstscanning funktioniere nämlich tadellos und das Unternehmen könne so weiterhin florieren. Der Zwischenfall sei zwar ärgerlich, so der Sprecher weiter, der Kassierer werde aber mit einem Getränkebon entschädigt.
12. April 2017
Kirchtürme gehören zum Landschaftsbild
Das Bundesgericht hat eine Klage wegen Lärmbelästigung gegen die Kirchen abgelehnt. Die Beschwerde wollte gegen das vier mal täglich für zehn Minuten andauernde Gebimmel vorgehen, das von verschiedenen Kirchen ausgeht. Die Klägerin gab zu bedenken, dass sich die Lärmbelastung vervielfache, wenn man zwischen zwei oder mehr Kirchen wohne, weil das Geläut jeweils nicht gleichzeitig statt finde.
Das Bundesgericht begründete seine ablehnende Haltung damit, dass die Kirchtürme fest zum Landschaftsbild gehörten und rieten der Frau, entweder an einen Ort ohne Kirchturm zu ziehen oder aber das Radio lauter zu drehen, sobald die Kirche zu läuten anfange.
Noë dachte an die Waldtiere, die flüchten wollten vor dem Lärm und nicht wussten, in welche Richtung sie gehen sollten. Sie fragte sich, in welche Richtung sie gehen würde, wenn sie einmal fliehen wollte. Die Strassen waren immer gleich, die Häuser auch. Sie könnte die Flüchtlinge suchen und sich ihnen anschliessen. Vielleicht wäre dort auch der arbeitslose Verkäufer. Und ein Laubbläser. Aber vielleicht wollte sie den ja gar nicht dabei haben. Wenn der so lärmte. Oder vielleicht gerade deshalb. Sie horchte in die Stille.
Immer, wenn ich ein neues Kapitel zum Utopia-Projekt veröffentliche, verschicke ich ein Benachrichtigungsmail. In der Seitenleiste links kann man sich dafür einschreiben.